Berlin. Nur wenige Stunden vor dem Beschluss von Bund und Ländern, das gesellschaftliche Leben im November extrem herunterzufahren (s. Kasten unten), haben Ärzte und prominente Wissenschaftler einen „Lockdown light“ in Teilen kritisiert. „Der Rückgang der Fallzahlen ist politisch zwar eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis“, heißt es in einem am Mittwoch (29.10.) veröffentlichten Positionspapier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), das zahlreiche Verbände und Fachgesellschaften unterstützen, darunter auch der Deutsche Hausärzteverband sowie die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).
„Wir erleben bereits die Unterlassung anderer dringlicher medizinischer Behandlungen, ernstzunehmende Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen durch soziale Deprivation und Brüche in Bildungs- und Berufsausbildungsgängen, den Niedergang ganzer Wirtschaftszweige, vieler kultureller Einrichtungen und eine zunehmende soziale Schieflage als Folge“, heißt es darin. KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister betonte, dass gerade Hausärzte wüssten, dass “ein dauerhafter Zustand von Angst und Erregung Spuren hinterlässt“. Stattdessen müsste der Tonfall vom Verbot hin zum Gebot rücken und die vorhandenen Ressourcen auf den Schutz von Risikogruppen gebündelt werden, betonten die Redner bei einer gemeinsamen Pressekonferenz zur Veröffentlichung des Papiers unisono.
Es stellt eine Gegenposition nicht nur zur bestehenden politischen Strategie, sondern auch zu anderen gewichtigen Stimmen aus der Wissenschaft dar: Erst am Tag zuvor hatten sich die großen deutschen Forschungsorganisationen gemeinsam für sofortige und deutliche Kontaktbeschränkungen ausgesprochen. Auch Prof. Christian Drosten von der Charité sagte in der am Dienstag (28.10.) veröffentlichten Folge des “Coronavirus-Update” von NDR-Info, dass ein “Lockdown light” von nur drei Wochen Entspannung bringen könne.
Es mache „keinen Sinn“, Restaurants, Theater oder Hotels zu schließen, die in den vergangenen Wochen mit Hygienekonzept und ohne Ausbrüche geöffnet gewesen seien, sagte hingegen Virologe Prof. Jonas Schmidt-Chanasit vom Hamburger Tropeninstitut als Mit-Unterzeichner der nun veröffentlichten Papiers. Die Kollateralschäden, nicht zuletzt durch „zerstörte Existenzen“, seien zu groß. Vielmehr fordern die Unterzeichner des Papiers ein bundesweit einheitliches Ampelsystem, das entgegen der aktuellen Konzentration auf die 7-Tages-Inzidenz „alle relevanten Kennzahlen wie Infektionszahlen, Anzahl der durchgeführten Tests, stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten“ abbilden soll.
Kontaktnachverfolgung nicht mehr passend?
Auch an anderer entscheidender Stelle stemmen sich die Ärzte gegen die bestehende Strategie des Robert Koch-Instituts (RKI): So wird eine Abkehr von der individuellen Kontaktnachverfolgung gefordert. Erst zu Beginn der Woche hatte RKI-Chef Prof. Lothar Wieler dringend an die Gesundheitsämter appelliert, diese nicht aufzugeben. Laut Positionspapier sollte bei der Kontaktverfolgung jedoch vielmehr auf Eigenverantwortung gesetzt werden: Informieren Menschen ihre eigenen Kontakte selbstständig, könnte dies Gesundheitsämter entlasten.
Darüber hinaus sollte die Kontaktnachverfolgung wie folgt priorisiert werden:
- Bezug zu medizinisch/pflegerischen Einrichtungen
- Teilnahme der Kontaktperson an potenziellen „Super-Spreader-Events“
- Nutzung der Corona-Warn-App
Schutz von Risikogruppen hat oberste Priorität
Im Fokus stehen, darin sind sich Politik und Ärzte zumindest einig, muss in den kommenden Wochen und Monaten der Schutz von Risikogruppen – also Kranke, Pflegebedürftige, Senioren und Menschen mit Behinderung. Die verfügbaren Antigen-Schnelltests „sollen jetzt zügig und prioritär in diesem Bereich eingesetzt werden“, damit sichere Kontakte ermöglicht werden könnten, hielten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten in ihrer Video-Konferenz am Mittwoch (29.10.) fest. Das Positionspapier konkretisiert diese Position und skizziert, dass Besucher in Seniorenheimen, Pflegeheimen und Krankenhäusern „in einem „Schleusen“-Modell nur nach negativem Antigen-Schnelltest Zutritt“ erhalten sollten. An beiden Stellen wurde dafür plädiert, dass der besondere Schutz nicht zu einer vollständigen sozialen Isolation führen dürfe.
Die Ärzteverbände und Virologen haben daher explizit die Nachbarschaftshilfe in ihren Forderungskatalog aufgenommen. Überlegungen hätten sich bislang allein auf Pflegeheime und Einrichtungen konzentriert, kritisierte Virologe Prof. Hendrik Streeck. „Wir brauchen aber eine Strategie für Menschen, die daheim leben und sich dort isolieren wollen.“ Dazu zählten Einkaufshilfen ebenso wie das Zurverfügungstellen von FFP2-Masken und Antigentests zur Durchführung daheim, um hin und wieder Besuch von Angehörigen empfangen zu können.
„Aus unserer Sicht wurde es über die Sommermonate leider versäumt, analog zu den Konzepten der Arztpraxen maßgeschneiderte und allgemeingültige Präventionskonzepte für vulnerable Gruppen zu entwickeln“, heißt es im Papier. Dies sei nun nachzuholen, appellierte Streeck. Denn: „Wir müssen uns auf einen Marathon statt einen kurzen Sprint vorbereiten. Das Coronavirus wird uns noch Jahre begleiten.“ Auch wenn man wisse, dass die nun vorgestellten Positionen in die quasi zeitgleich laufenden Gespräche von Bund und Ländern nicht mehr haben einfließen können, so setze er darauf, dass die Politik diese in den weiteren Beratungen mit aufnimmt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte an, dass sie gemeinsam mit den Ministerpräsidenten zwei Wochen nach dem Inkrafttreten der Beschränkungen am 2. November die Auswirkungen erneut bewerten werde.