Hausarzt MedizinWenn der aufrechte Gang zur Qual wird

Rückenschmerzen stellen Arzt und Patient trotz moderner Operationstechniken, Röntgendiagnostik und Kernspintomografie vor größte therapeutische Probleme. In vielen Fällen erweisen sie sich als therapieresistent und chronifizieren, es entwickelt sich eine Schmerzkrankheit mit nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen und sozialen Einbrüchen.

Wenn der Rücken schmerzt, ist gefährdet, was den Menschen unter allen Lebewesen als herausragendes Merkmal einzigartig in der Natur kennzeichnet: der aufrechte Gang. Die intakte Wirbelsäule garantiert den Vollzug der Weltoffenheit in biologischer wie geistiger Hinsicht. Mit dem aufrechten Gang wird auch eine existenzielle und sittliche Haltung bezeichnet: Entschlossenheit, Standhaftigkeit, Gewissen und Individualität behaupten sich, wenn jemand "Rückgrat zeigt", die Existenz kann gefährdet sein, wenn jemand das "Rückgrat gebrochen" wird, jemand einen hintergeht, "in den Rücken fällt", die "Angst im Nacken" sitzt.

In all diesen Redewendungen ist ein altes Volkswissen um die Zusammengehörigkeit von Organismus und Existenz enthalten. Dieses Wissen geht über den Begriff des "Psychosomatischen" hinaus und ist für die Diagnostik und Therapie der Rückenschmerzen, und da vor allem in ihrer chronischen Form, von entscheidender Bedeutung.

Die Tragik des Rückenschmerzpatienten

Rückenschmerzen stellen Arzt und Patient vor größte therapeutische Probleme. In vielen Fällen erweisen sie sich als therapieresistent und chronifizieren. Selbst wenn manchmal objektive morphologisch-pathologische und physiologische Befunde wie Bandscheibenprolaps, spinale Enge oder Instabilität mit Gleitwirbelbildung nachgewiesen werden können, besteht meist Unsicherheit über das weitere therapeutische Vorgehen. In Deutschland geht die Zahl der Patienten mit chronifizierten Rückenschmerzen in die Millionen und operative Eingriffe oder medikamentöse Schmerztherapien zeigen meist wenig oder nur kurzfristigen Erfolg.Häufig verschlimmert sich das Leiden nach Operationen an Bandscheibe oder Wirbelsäule bei diesen Patienten.

Chronische Rückenschmerzen stehen an der Spitze der Behandlungskosten und Fehltage. Nach unseren eigenen Erfahrungen mit über 10.000 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen ist von einer über 80-prozentigen Komorbidität mit Depressionen und Angsterkrankungen auszugehen. Obwohl im Röntgenbild fassbare Veränderungen der Wirbelsäule Rückenschmerzen nur zu einem geringen Prozentsatz erklären, werden dennoch 20 Prozent aller Patienten häufiger als einmal geröntgt. Bei etwa 80 Prozent aller Rückenschmerzen lassen sich zurzeit keine eindeutigen körperlichen Ursachen finden, Bandscheibenvorfälle erklären wahrscheinlich weniger als 10 Prozent. Rückenschmerzen neigen zu einer "Ausweitung" auf den ganzen Körper und sollten deshalb nicht ausschließlich als ein Problem der Rücken-region behandelt werden.

Teufelskreis aus Schmerz, Angst und Depression

Das existenzielle Kranksein beim chronischen Rückenschmerz ist in den meisten Fällen kein Thema für Diagnostik und Therapie. Es kommt zu langwierigen und erfolglosen Behandlungen mit häufigem Arztwechsel und zu immer längeren Krankschreibungen mit zunehmender persönlicher und sozialer Desintegration und endgültiger Chronifizierung. Chronische Rückenschmerzen machen zwar nur 10 Prozent aller Rückenschmerz-Erkrankungen aus, verursachen aber 90 Prozent aller Behandlungskosten. Chronischer Rückenschmerz steht in Zusammenhang mit der gesamten Persönlichkeit des Patienten, mit seinen Gefühlen, seinen Beziehungen und bedeutet eingeengte körperliche, geistige und soziale Beweglichkeit, Krankheit des aufrechten Ganges – ein Teufelskreis aus Schmerz, Angst und Depression.

Beispiele aus der Praxis verdeutlichen die Schwierigkeiten bei Diagnostik und Therapie von Rückenschmerz-Patienten:

Auch biographische Anamnese erheben

In der nach acht Jahren erstmalig erhobenen biographischen Anamnese erzählt die Patientin einen erheblich belastenden Hintergrund mit entsprechend weitgehend verdrängter Affektivität, die sich chronifizierend auf die komplexe körperliche Symptomatik auswirkt und unbewusst auch Probleme in den ärztlichen Behandlungen provoziert.

Den Auszug der Kinder aus dem gemeinsamen Haushalt kann die Patientin kaum verkraften, sie hat nach einer komplizierten Scheidung Probleme mit ihrem neuen Partner. Es droht Arbeitslosigkeit nach Mobbing, mit der Schwester gibt es nach dem Tod der Eltern Streit um das Erbe. Ihrem Scheitern in Beruf und in der Liebe liegt ein selbstschädigender unbewusster Wiederholungszwang zugrunde. Es liegen Selbstwertprobleme und Lebensangst vor, erstmals kommt familiärer sexueller Missbrauch in der Kindheit zur Sprache.

Neben Schuld- und Schamkonflikten bestehen Abhängigkeits- und Autonomiekonflikte sowie der Verdacht auf eine abhängige Persönlichkeitsproblematik. In der Therapievereinbarung wird als Fokus die Vorbereitung auf eine längere ambulante Psychotherapie formuliert. Die Körpertherapien mit Entspannungsverfahren und Physiotherapie stimulieren in Einzel- und Gruppensituationen das Körperselbst und damit das Ich-Gefühl in Richtung eines dialogischen Verhältnisses zum eigenen Körper. Dadurch kann die Patientin nach und nach abgespaltene, als böse und bedrohlich erlebte Affekte in das eigene Selbstbild integrieren und kommunizieren. Sie wird unter Aktivierung ihrer salutogenetischen Ressourcen darauf vorbereitet, ihre eigene Ärztin zu werden, was die Selbstständigkeit gegenüber ihrer Erkrankung fördert.

Die Krankenrolle ermöglicht häufig Entlastung

Der Patient hat seit Jahren eine feste Freundin, die täglich seine kranke Stelle am Rücken massiert. Die Zärtlichkeiten fallen sonst eher spärlich aus; auch hatte der Patient eine Phase von Impotenz. Er wuchs als wohlbehütetes Einzelkind auf. Seine Eltern lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Ein anspruchsvoller Berufswunsch hatte sich bei ihm nie entwickelt. Er träumte immer schon von einem Leben in Sorglosigkeit und Vergnügen. Die Sexualität und Partnerschaftsgestaltung des Patienten tragen ausgeprägte Züge der Verwöhnung und des Rückzugs von Aktivität und Verantwortung auf dem Boden einer narzisstischen Persönlichkeitsproblematik. Dieser Lebensstil dominiert auch sein Leben insgesamt und kann als Quelle seiner missglückten Krankheitsbewältigung angesehen werden.

Die Krankenrolle ermöglicht ihm Entlastung von den Schwierigkeiten der Lebensführung. Nach einem kurzen Therapieversuch muss die Behandlung wegen sinkender Motivation des Patienten abgebrochen werden. Der Patient ist nicht bereit, Mitarbeit in der Therapie zu akzeptieren, die Ärzte sollen ihm helfen. Zu einem späteren Zeitpunkt meldet sich der Patient wegen eines Attestes für ein Rentenbegehren. Dabei wird von unserer Seite erneut die fehlende Therapievereinbarung thematisiert und es werden seine Ansprüche auf ein Gefälligkeitsgutachen zurückgewiesen. Die Möglichkeit eines erneuten Therapieversuchs mit der Bedingung eines entsprechend vereinbarten Fokus wird aber bekräftigt, nicht zuletzt angesichts des jungen Lebensalters des Patienten.

Geduld, Hartnäckigkeit und Humor

Die Prognose der psychosomatischen Rückenschmerzen kann wesentlich verbessert werden, wenn bereits vom primär konsultierten Arzt – meist der Orthopäde oder der Hausarzt – eine mögliche psychische Erkrankung in die differenzialdiagnostischen Überlegungen miteinbezogen und frühzeitig die weitere Abklärung durch den psychosomatischen Facharzt veranlasst wird.

Ein gut abgestimmtes interdisziplinäres Krankheitskonzept vermeidet Fehlentwicklungen und eröffnet therapeutische Chancen für den Patienten. Auf den drei Säulen Geduld, Hartnäckigkeit und Humor muss die Therapie des chronischen Schmerzpatienten aufbauen. Es muss aber festgestellt werden: die Einzeltherapie ist dabei ein sehr hartes Brot, und auch nur begrenzt effektiv. Der chronische Schmerzpatient braucht die Gruppensituation im speziellen Setting als Rahmen für grundsätzliche Prozesse der Umorientierung in der Therapie. Erst in der Kombination mit Entspannungsverfahren, Körpertherapien wie Feldenkrais oder Konzentrativer Bewegungstherapie, Tai Chi Kineo oder Kreativtherapie, Physiotherapie und trainierenden verhaltensmedizinischen Verfahren in einem situativen Therapiesetting mit einem multimodalen Team und Psychoedukation hat auch die Einzelpsychotherapie eine Chance.

Unter Ausnutzung der neuronalen Plastizität des Gehirns kann ein Umlernen bei der Schmerzkrankheit erfolgen. Die Enge konkretistischer Somatisierung kann überwunden, schrittweise können Handlungsfähigkeit, soziale, physische und emotionale Beweglichkeit im Alltag gesteigert werden.

Der Patient muss sein eigener Arzt werden

Im Grunde geht es darum, dass der Patient lernt, sein eigener Arzt zu werden. Anders gesagt: es geht um die Aktivierung salutogenetischer Ressourcen, darum, am Gesunden des Patienten anzuknüpfen. In dieser Hinsicht ist die Betreuung durch den Hausarzt als dem Arzt seines Vertrauens, entscheidend. Die Beziehung sollte weniger mit dem Anspruch kurativer Therapie gestaltet werden, vielmehr im Bewusstsein der Haltefunktion, der holding fuction, dem basalen Wahrgenommenwerden durch Anhören, körperliche Untersuchung, durch Beruhigen und Informieren.

Dazu sollten Netzwerke von Hausarzt-, Facharztpraxen und Kliniken, die im stationären oder teilstationären Setting situative organismische Therapie anbieten, gepflegt werden. Im Sinne einer sequenziellen Therapie kann es notwendig sein, dass der chronische Schmerzpatient wie ein Suchtkranker mehr als einmal eine Therapiephase im klinischen Setting durchläuft. Dem Niedergelassenen kommt eine ganz entscheidende Funktion in der Kontinuität der Behandlung zu, bei ihm laufen die therapeutischen Fäden zusammen und durch ihn können entscheidende Weichenstellungen erfolgen.

Fall 1: Langer Leidensweg

Eine 54-jährige Patientin mit langjährigen Rückenschmerzen ist seit einem Jahr wegen therapeutisch nicht mehr beherrschbarer Lumboischialgien krank geschrieben, Frührente ist beantragt. Insbesondere in den letzten Jahren hatte sie mehrere dutzend Ärzte aus mindestens acht Facharztgruppen konsultiert, neben den zahlreichen Orthopäden mehrere Zahnärzte wegen Gebissschäden durch nächtliches Zähnemahlen (Bruxismus), wegen schmerzhafter Kiefergelenke Kieferorthopäden und Rheumatologen, wegen Dysmenorrhö und klimakterischer Beschwerden diverse Gynäkologen, wegen Kopfschmerzen und Schwindel einige Neurologen, den Internisten und Hausarzt wegen Herzrasen, Übelkeit, Erbrechen und hohem Blutdruck, diverse HNO-Ärzte wegen Tinnitus, mehrere Psychiater wegen Suizidimpulsen, Depressionen und Angstanfällen.

Vordergründig lassen sich bei der Patientin folgende Diagnosen nach ICD10 feststellen: Depressionen F32.1, Angstanfälle F41.1, Schlafstörungen F 45.38, Herzrasen F 45.30, Essenzieller Hypertonus I 10.00, Fibromyalgie M 79.70, LIS M 54.4, Zervikobrachialgien M 54.2, Kopfschmerzen G 44.2, nächtliches Zähneknirschen F 45.8, Tennisellenbogen M 77.1, Tinnitus H 93.1, Schwindel F 45.8, Mobbing Z 56.

Fall 2: Eine Frage von Schuld

Ein 32-jähriger Mann sucht die Sprechstunde wegen monatelang bestehender ischiasartiger Schmerzen auf. Er ist deshalb seit längerer Zeit krank geschrieben. Aufgrund eines gravierenden CT-Befundes (sequestrierter Prolaps L5/ S1) muss eine Operation diskutiert werden. Diese lehnt der Patient ab. Bei dem schüchternen Mann kommen bald Ausbruchsphantasien aus seiner langjährigen Partnerschaft zur Sprache. Fokus der multimodalen Therapie war die Förderung emotionaler Introspektion.

Nachdem ihm im Laufe der Therapie ein offenes Gespräch mit seiner Partnerin gelungen ist, bessert sich die Schmerzsymptomatik zusehends. Seine Schuldgefühle verlieren ihren selbstquälerischen, moralisierenden Charakter. Das gesteigerte Selbstvertrauen erlaubt es ihm, eine verstehende Haltung zu der Frage von "Schuld", d.h. dem, was er tatsächlich sich bisher selbst und seiner Mitwelt schuldig geblieben war, zu gewinnen.

Fall 3: Unfallfolgen

Ein 29-jähriger Mann kann die Folgen eines Sportunfalles, die sich in chronischen Schmerzen an der Wirbelsäule äußern, nicht überwinden. Dieser Unfall war eigentlich geringfügig, hatte aber eine monatelange Krankschreibung zur Folge. Eine Umschulung wurde erforderlich, bei der sich weitere Symptome wie Herzrasen und hoher Blutdruck einstellten. Eine organische Erkrankung konnte ausgeschlossen werden.

Tab. 1: Wie kann die Diagnostik in der Praxis verbessert werden?

Verdacht auf psychosomatische Probleme thematisieren und vorsichtig explorieren:

  • Liegen Konflikte am Arbeitsplatz, in der Familie vor? Verluste? Psychische und soziale Traumatisierungen, mit Aktualisierung von Misshandlungen in der Kindheit?

Hinweise auf psychosomatischen Hintergrund geben:

  • Psychosomatische Zweiterkrankungen wie Ulkus, Migräne, Asthma, Hypertonus, Essstörungen, Sexualprobleme, Süchte, Funktionelle Herzbeschwerden.

  • Gehäufte Verlegenheitsdiagnosen wie Fibromyalgie, Chronische Adnexitis, Vegetative Dystonie, Intercostalneuralgie.

  • Psychosomatische Redewendungen, die vom Patienten benutzt werden, wie z. B. bis auf die Knochen blamiert sein, sich ein Bein ausreißen, die Angst im Nacken spüren, Mangel an Rückgrat zeigen, in die Knie gehen, kreuzunglücklich sein, halsstarrig oder hartnäckig sein, Ärger am Hals haben, sich den Kopf zerbrechen u.a.

  • Konsequenzen: Frühzeitig psychosomatisches Konsil veranlassen, zugleich aber dem Patienten nicht das Gefühl geben, ihn "wegzuschicken", Ängste vor Stigmatisierung beruhigen: Eine psychosomatische Diagnose ist keine Schande. Sie eröffnet vielmehr neue Chancen für eine gezielte Behandlung. Die Lebensqualität des Patienten wird verbessert, die Effektivität sämtlicher ärztlicher Interventionen wird gesteigert, die Behandlungskosten werden deutlich reduziert.

  • Eine biografische Anamnese sollte von Anfang an erfolgen, mit Kenntnis der Ärzteodyssee und des Medikamentenverbrauchs; die psychosomatische Untersuchung sollte so selbstverständlich sein wie Blutabnahme und Röntgen.

Literatur beim Verfasser; Mögliche Interessenkonflikte: keine

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