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HarnwegsinfekteMythen in der Urologie

Auch in der Urologie halten sich Meinungen und Verfahren, die schon lange widerlegt worden sind. Gleich zwei solcher Mythen ranken sich um den Restharn.

Einem der Urväter der deutschen Urologie, Professor Rudolf Hohenfellner aus Mainz, sagt man nach, dass er demjenigen, der meinte, er habe etwas Neues entdeckt oder erfunden, erwiderte, er beweise in der Regel nur, dass er die Literatur nicht genügend studiert habe, denn (fast) alles sei schon bekannt.

Umgekehrt aber überleben beharrlich Meinungen oder Verfahren, von denen längst bewiesen worden ist, dass sie schon lange nicht mehr haltbar sind. Die Urologie ist nicht frei davon – im Gegenteil, sie bietet eine ganze Reihe solcher Mythen.

Nur zur Erinnerung sei die Abstufung evidenzbasierter Medizin erwähnt: Sie reicht von Level I bis V. Folglich erreicht der Spruch “Das haben wir immer schon so gemacht” nicht einmal die unterste Stufe der evidenzbasierten Medizin, wir reden also augenzwinkernd von “EBM-Stufe VI”.

Infekte durch Restharn?

Wieso ist der Urin, den jeder Mensch gerade zufällig in seiner Harnblase hat, ungefährlich, während Restharn plötzlich Harnwegsinfekte verursachen soll? Umgekehrt wird daraus vielleicht etwas. Denn wenn jemand einen Harnwegsinfekt hat und gleichzeitig Restharn, wird es natürlich schwieriger, diesen Infekt zu kurieren.

Gleichwohl konnte nie nachgewiesen werden, dass Harnwegsinfekte mit Restharn und/oder einer Blasenauslassobstruktion in einem Zusammenhang stehen [1]. Urologie ist ein sehr mechanistisches Fach, was sich an diesem Beispiel erklären lässt.

Wichtig ist aber auch die Erkenntnis, dass nicht jeder Keimnachweis im Urin ein Harnwegsinfekt ist. Unterstützt wird dies durch eine Arbeit von Brookman-May et al, die nicht nachweisen konnten, ab welcher Restharnmenge eine asymptomatische Bakteriurie gefunden wird [2].

Gleichwohl gibt es aber Patientengruppen, bei denen man vermutet, dass sie besonders gefährdet seien:

Patienten, die bestimmte Medikamente einnehmen:

Harnwegsinfekte können als spezifische Nebenwirkung bestimmter Medikamente auftreten [3]. Insgesamt ist diese Nebenwirkung bei zehn verschiedenen Medikamentengruppen bekannt (s. Tab. 1). Bevor man bei diesen Harnwegsinfekten also den Restharn beschuldigt bzw. unsinnigerweise mit einem weiteren Medikament oder gar einem Antibiotikum bzw. ultimativ mit einer Operation behandelt, sollte man die Ursache des Infekts bedenken, nämlich ein in Tab. 1 aufgeführtes Medikament.

Menschen mit Diabetes:

Zu der Frage nach Restharn bei Menschen mit Diabetes und deren Einfluss auf die Entwicklung eines Harnwegsinfekts gibt es in der jüngeren Literatur keine hochwertigen Arbeiten. Vielleicht kann man daraus ableiten, dass man sich auch hier vor einer Überschätzung des Restharns nicht ablenken lassen sollte.

Geriatrische Patienten:

Etwas besser sieht die Studienlage bei geriatrischen Patienten aus. Hier haben Kollegen aus Israel 111 Männer im Alter über 75 Jahre untersucht, die in einer internistischen Abteilung aufgenommen worden waren. 6,3 Prozent davon hatten Restharn respektive einen Harnverhalt.

Nur einer von ihnen (n=1) benötigte vorübergehend einen Harnblasenkatheter. Weitergehende urologische Konsequenzen hatte die Situation in keinem Fall, woraus die Autoren schließen, dass man bei internistischen Aufnahmeuntersuchungen gar nicht nach eventuellem Restharn suchen sollte [4].

Restharn und Harnverhalt

Nun wird Restharn auch gerne mit dem Argument therapiert, man wolle damit einen Harnverhalt verhindern. Stimmt leider ebenfalls nicht: In der MTOPS-Studie (Medical Therapy of Prostatic Symptoms) wurden 3.047 Männer mit mäßig bis schweren LUTS (lower urinary tract symptoms) und einer Harnstrahlrate von 4 bis 15 ml/sec über einen Zeitraum von 4,5 Jahren mit Placebo oder unterschiedlichen Medikamentenregimen behandelt.

Als Nebenprodukt dieser Studie ist aufgefallen, dass die mit einem Placebo behandelten Patienten keine höhere Inzidenz eines akuten Harnverhalts in Abhängigkeit von ihrem Restharn zu Beobachtungsbeginn hatten.

Und wenn der Patient dann doch einen Harnverhalt erleidet, haben wir gelernt, dass man den Urin fraktioniert ablassen soll. Auch dies ist nicht richtig!

Das Argument für das fraktionierte Ablassen war die Gefahr einer vasovagalen Synkope oder Hämaturie. In einer Studie an 62 Patienten widerlegte Etafy [5] diese Theorie: Patienten mit einem Harnverhalt haben durch diese Notfallsituation einen etwas höheren Blutdruck als gewöhnlich, der mit dem Ablassen des Urins wieder auf Normwerte abfällt, aber keinen klinisch relevanten Blutdruckabfall, insbesondere keine vasovagale Synkope.

In der gleichen Studie stellte er fest, dass eine Hämaturie entweder durch den Katheterismus oder die Überdehnung der Harnblase zustande kommt – beides Faktoren, die auch bei einem fraktionierten Ablassen des Urins nicht zu vermeiden sind. Die Literatur, die diese Theorie unterstützt, stammt teilweise aus den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, und auch die Arbeit von Etafy ist bereits sechs Jahre alt – vielleicht wird er ja noch erhört.

Fazit

  • Alles hinterfragen!
  • Restharn macht keinen Harnwegsinfekt.
  • Bestimmte Medikamente können Harnwegsinfekte verursachen.

Interessenskonflikte: Der Autor erklärt, dass bei ihm in Bezug auf diesen Beitrag keine Interessenkonflikte bestehen.

Literatur:

  1. Choi JB, Min SK. Complicated urinary tract infection in patients with benign prostatic hyperplasia. J Infect Chemother. 2021 Sep;27(9):1284-1287. doi: 10.1016/j.jiac.2021.06.006. PMID: 34144904
  2. Brookman-May S, Burger M, Hoschke B, Wieland WF, Kendel F, Gilfrich C, Braun KP, May M. Association between residual urinary volume and urinary tract infection: prospective trial in 225 male patients. Urologe A. 2010 Sep;49(9):1163-8. doi: 10.1007/s00120-010-2364-y. PMID: 20717648
  3. Dobrek Ł. Drug related urinary tract infections. Wiad Lek. 2021;74(7):1728-1736. doi: 10.36740/WLek202107130. PMID: 34459779
  4. Schacham NY, Schwarzman A, Brom A, Gilboa M, Groutz A, Justo D. Screening for Asymptomatic Urinary Retention in Older Adult Men at Admission to the Internal Medicine Department: A Prospective Study. Isr Med Assoc J. 2021 Jul;23(7):432-436.PMID: 34251126
  5. Etafy MH, Saleh FH, Ortiz-Vanderdys C, Hamada A, Refaat AM, Aal MA, Deif H, Gawish M, Abdellatif AH, Gadalla K. Rapid versus gradual bladder decompression in acute urinary retention. Urol Ann. 2017 Oct-Dec;9(4):339-342. doi: 10.4103/0974-7796.216320. PMID: 29118535
  6. Hautmann RE. Ileale Ersatzblasen. Urologe 47, 33–40 (2008). doi: 10.1007/s00120-007-1606-0. PMID: 18210063
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