Hausarzt MedizinÜbertherapie am Lebensende vermeiden

Häufig wird bei hochbetagten Patienten ein hoher diagnostischer und therapeutischer Aufwand betrieben, obwohl dabei kein Erfolg zu erwarten ist. Die Gründe für eine solche Übertherapie am Lebensende sind vielschichtig.

Der 94-jährige ehemalige Landwirt war seit 10 Jahren demenzbetroffen. Die Pflegeakte bemerkte auf dem Biographieblatt: "Naturliebhaber, war stets draußen, ein Leben nur noch drinnen ist für ihn nicht vorstellbar."

Immer wieder ging es vom Pflegeheim auf Einweisung des Notarztes in die Klinik. 2015 war der Terminalzustand einer Demenz erreicht. Als er Ende 2015 einmal mehr laut klagte – diesmal deutete er auf die Brust – riefen die Altenpflegerinnen den Notarzt. Der Notarzt stellt fest: "Es gibt hier keine Patientenverfügung – also machen wir Alles."

Das EKG hatte aufgrund der ständigen Unruhe keine Aussagekraft, umfängliche Untersuchungen konnten den Grund für die Schmerzen nicht klären. So entschloss man sich in der Klinik "zur Komplettierung der Diagnostik" zu einer Koronarangiographie. Vier Stents wurden gelegt. Trotz 5-Punkt-Fixierung hielt er das rechte Bein nicht still. In der Folge entwickelte sich an der Punktionsstelle des linken Oberschenkels eine massive Einblutung, die Unruhe verstärkte sich schmerzbedingt.

Fünf Tage nach dem Koronareingriff wurde der Landwirt auf die Gerontopsychiatrie verlegt. Von dort ging es sediert zurück ins Pflegeheim. Ohne wesentliche Zustandsänderung fand der Frühdienst den Greis einige Zeit später nicht mehr atmend in seinem Bett.

Wann der Arzt handeln darf

Die Aussage des Notarztes stellt die Grundlagen von Ethik und Recht auf den Kopf: Nicht das Nichtdurchführen eines Eingriffs bedarf einer Begründung, sondern die Durchführung bedarf zweier Voraussetzungen:

❶ Es muss eine Indikation vorliegen. Das heißt, der Arzt ist der Überzeugung, dass durch die Maßnahme ein Therapieziel im Sinne des Patienten erreicht werden kann.

❷ Der Patient muss nach Aufklärung (mutmaßlich) zustimmen.

Fehlt nur eine Bedingung, handelt es sich um eine strafbare Körperverletzung.

Die Messlatte für notärztliche Entscheidungen mag man unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit unter Zeitdruck nicht allzu hoch legen wollen. Anders dagegen liegt die Messlatte bei hochinvasiven Eingriffen, sprich der Koronarangiographie.

Es gab keine Hinweise auf einen Myokardinfarkt in Labor oder EKG, einzig die unspezifischen Schmerzangaben führten zu dem Eingriff. Kardiologen erklären, dass "… Patienten mit stabilen Koronarstenosen nicht von einer Stentimplantation im Vergleich zur medikamentösen Therapie profitieren. Denn zu einem Herzinfarkt kommt es meistens nicht aus hochgradigen Stenosen, sondern aus instabilen Plaques, die plötzlich aufplatzen" [1].

Darüber hinaus sind ein Therapieziel im Sinn des ehemaligen Landwirts oder gar eine mutmaßliche Zustimmung nicht zu erkennen. Gleichwohl kosteten die Klinikaufenthalte etwa 13.000 Euro.

Zu viele Koronarangiographien im biblischen Alter?

Heute ist es in Deutschland nicht mehr ungewöhnlich, Greise koronar zu angiographieren. Zwischen 2008 und 2014 haben sich die Eingriffe bei über 90-Jährigen verdreifacht. Allein die "Entlassungsart Tod" stieg um fast 30 Prozent [2]. Auch in der Presse werden in letzter Zeit vermehrt kritische Stimmen zur Risiken-Nutzen-Abwägung medizinischer Maßnahmen am Lebensende laut [3, 4, 5].

Bei stabiler KHK erfolgten 2014 knapp 200.000 Koronarangiographien. Die gültige Leitlinie zu dieser Situation empfiehlt den Eingriff aber nur noch in Ausnahmefällen bzw. nach Risikoeinschätzung [6]. Das liest sich im Deutschen Herzbericht ganz anders: "Die Indikation zum Linksherzkatheter erfolgte noch im Jahr 2013 zu über 93 Prozent bei Durchblutungsstörungen, weshalb auch nicht von einer Fehlversorgung gesprochen werden kann. Für das Jahr 2014 liegen keine aktualisierten Zahlen mehr vor. Dieser nützliche Qualitätsindikator aus der Bundesauswertung wurde 2014 deaktiviert. Damit fehlt die Weiterführung einer Angabe zur Frage der leitliniengerechten Indikation."

Verlässliche Qualitätsdaten werden also, trotz der mittlerweile in der Öffentlichkeit diskutierten Übertherapie-Problematik, nicht mehr erhoben.

Doch der zitierte Herzbericht 2015 räumt ein: "Bei Patienten mit geringgradigen Stenosen ohne Symptome soll vermieden werden, mit der Intervention reine ‚Gefäßkosmetik‘ zu betreiben, da die Patienten keinen erwiesenen Nutzen haben." Dieser Satz ist juristisch gesehen Nonsens. "Ohne Nutzen für den Patienten" und mit potenziell tödlichem Risiko heißt: Es besteht keine Indikation und damit handelt es sich um strafbare Körperverletzung.

Wirtschaftliche Fehlanreize

Über wirtschaftliche Fehlanreize, Mengenausweitung von Eingriffen und "Ausweitung der Indikationen" sowie die Durchführung von nicht indizierten Eingriffen berichten Bundesärztekammer, die Bertelsmannstiftung und der Deutsche Ethikrat [7, 8, 9]. Und dieses Problem wächst seit Anfang des Jahrtausends zum Hauptproblem in der Versorgung Sterbender heran.

Daswirtschaftliche Risiko der Kliniken wurde durch eine Änderung des Abrechnungsmodus auf die Klinikleitungen übertragen. Während früher die Kliniken, jeweils zum Jahresende, ihre Kosten vorrangig anhand der Verweildauer der Patienten geltend machen konnten (Kostendeckungsprinzip), wird das Entgelt durch das neue DRG-System auf der Basis eines Diagnosemix und anhand der durchgeführten Prozeduren bestimmt: Je schlimmer die Krankheit und je technischer der Eingriff, desto höher der Erlös. Über Bonusverträge werden leitende Ärzte an lukrativen Eingriffen oder am Klinikgewinn beteiligt.

Dabei entsteht ein hoher Fehlanreiz, bei Schwerkranken und Sterbenden möglichst umfangreiche Eingriffe durchzuführen. Mittlerweile schätzen namhafte Experten, dass die Hälfte der Sterbenden Opfer von Übertherapie sind [10]. Das bestätigt eine aktuelle Untersuchung: Bis zu 50 Prozent der Patienten erhalten nicht indizierte Untersuchungen, 28 Prozent der Sterbenden werden gar reanimiert [11]. Sie sind oft nicht mehr in der Lage, ihren Willen kundzutun oder zu widersprechen.

Selbst wenn ein Schwerkranker Herr seiner Sinne ist, so ist er nach Erfahren einer schlimmen Krankheit im "Diagnoseschock". Das ist vergleichbar mit einem hypnoseähnlichen Zustand, man ist also suggestibel [12]. So ist ein sterbenskranker Patient ein "Patient ohne Verfügung" [13].

Probleme nicht nur in der Kardiologie

Probleme bestehen aus Sicht eines ambulant tätigen Palliativmediziners nicht nur bei der Versorgung von Krebskranken mit Chemo- und Strahlentherapie oder Operationen. Auch Patienten mit Herz-, Lungen-, Nierenversagen oder schweren Hirnerkrankungen sind betroffen. Freiwillige Selbstkontrolle greift nicht.

Betrachten wir nur den kleinen Teilaspekt der Bonusverträge. Obgleich diese von Ärztetag zu Ärztetag kritisiert werden und der Gesetzgeber auf den Verzicht dieser Klauseln drängt [14], gibt die Unternehmensberatung Kienbaum an: 2015 fanden sich in 97 Prozent der untersuchten Chefarztverträge entsprechende Geldanreize [15].

Hausärzte sind gefragt

Die Gründe für Übertherapie am Lebensende sind jedoch vielschichtig und auch auf ärztlicher Seite oftmals von Informationsmangel über die Gesamtprognose und Unsicherheit geprägt [16].

Hausärzte besitzen die Schlüsselposition, diese Missstände zu verändern: So werden beispielsweise durch die hausarztzentrierte Versorgung weniger vermeidbare Klinikeinweisungen durchgeführt und unnötige Eingriffe vermieden [17].

Zudem sollten sich Hausärzte als neutrale Zweitmeinungsberater engagieren. Die Einholung einer Zweitmeinung vermeidet Studien zufolge bis zu 60 Prozent der Eingriffe [18].

Leider werden Hausärzte in der Akutsituation von Seiten der Kliniken zu selten zu Rate gezogen. Im obigen Fallbeispiel hätte der unnötige Eingriff jedoch möglicherweise durch eine frühzeitige Intervention des Hausarztes verhindert werden können: Gerade bei hochbetagten Patienten, die ihren Willen nicht frei äußern können, muss das Gespräch mit Angehörigen und gesetzlichen Betreuern gesucht werden, um mit Ihnen gemeinsam anhand erreichbarer Therapieziele festzulegen, ob und in welchem Fall eine stationäre Einweisung oder weitere Maßnahmen erfolgen sollen.

Das Gespräch sollte entsprechend in der Patientenakte dokumentiert werden. Hier muss sowohl der mutmaßliche Wille des Patienten als auch die erwartete Gesamtprognose berücksichtigt werden. Über diese hat der behandelnde Hausarzt in der Regel die zuverlässigste Information. Dieses Vorgehen kann Angehörige im Falle einer akuten Dekompensation der Situation entlasten und hilft möglicherweise auch in der Klinik, in Grenzsituationen im Sinne des Patienten zu entscheiden [19]. Die Patienten und ihre Familien werden es dem Hausarzt danken.

Buchtipp

Thöns, Matthias: Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende. Piper Verlag, 2016

In deutschen Kliniken wird operiert, katheterisiert, bestrahlt und beatmet, was die Gebührenordnung hergibt – bei 1.600 Euro Tagespauschale für eine stationäre Beatmung ein durchaus rentables Geschäft.

Der Autor berichtet aus seiner jahrelangen Erfahrung als ambulant tätiger Palliativmediziner von selbst erlebten Fällen, in denen alte, schwer Kranke mit den Mitteln der Apparatemedizin behandelt werden, obwohl kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist. Nicht Linderung von Leid und Schmerz, sondern finanzieller Profit steht im Fokus des Interesses vieler Ärzte und Kliniken, die honoriert werden, wenn sie möglichst viele und aufwendige Eingriffe durchführen.

Thöns’ Appell lautet deshalb: Wir müssen in den Ausbau basisnaher Palliativmedizin investieren, anstatt das Leiden alter Menschen durch Übertherapie qualvoll zu verlängern.

Interessenkonflikte: Dr. Thöns hat Vortragshonorare von Pro Strakan erhalten.

Literatur

    1. Ostthüringer Zeitung vom 01.08.2014: Jenaer Kardiologe: „Wir greifen zu oft zum Herzkatheter“. im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.otz.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Jenaer-Kardiologe-Wir-greifen-zu-oft-zum-Herzkatheter-2063911391
    1. Deutsche Herzstiftung: 27.Deutscher Herzbericht 2015. Sektorenübergreifende Versorgungsanalyse zur Kardiologie und Herzchirurgie in Deutschland. ISBN 978-3-9811926-6-7
    1. Focus vom 30.09.2015: Sinnlos, teuer und oft gefährlich. im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.focus.de/gesundheit/arzt-klinik/klinik/verzichtbare-operationen-und-therapien-sinnlos-teuer-und-oft-gefaehrlich-aerzte-uebertherapieren-deutsche-patienten_id_4955378.html
    1. Ärzte Zeitung vom 18.06.2015: Ärzte und Kassen schlagen Alarm: Zu viele unnötige Herzeingriffe im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/versorgungsforschung/article/888633/aerzte-kassen-schlagen-alarm-viele-unnoetige-herzeingriffe.html
    1. Süddeutsche Zeitung vom 27.06.2016: Erzwungene Qual am Ende des Lebens. Im Internet (Zugriff am 29.06.2016) unter http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/medizin-aufhoeren-koennen-1.3053782
    1. The Task Force on the management of stable coronary artery disease of the European Society of Cardiology: 2013 ESC guidelines on the management of stable coronary artery disease. European Heart Journal (2013) 34, 2949–3003 eurheartj.oxfordjournals.org/content/ehj/34/38/2949.full.pdf
    1. Wiesing U: „Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung. Das Beispiel der Verträge mit leitenden Klinikärztinnen und -ärzten“. Deutsches Ärzteblatt 110, Heft 38 (20.09.2013), S. A-1752 – A-1756, im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.zentrale-ethikkommission.de/page.asp?his=0.1.64
    1. Bertelsmann Stiftung: Faktencheck regionale Unterschiede 2015. https://faktencheck-gesundheit.de/de/faktenchecks/regionale-unterschiede/ergebnis-ueberblick/
    1. Deutscher Ethikrat: Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus; im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-patientenwohl-als-ethischer-massstab-fuer-das-krankenhaus.pdf, 05.04.2016
    1. Borasio GD: Faktencheck zur Sterbehilfe. Die Zeit vom 22.09.2015. im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.zeit.de/2015/38/bundestag-sterbehilfe-diskussion-gesetzesentwuerfe
    1. Cardona-Morell M, Kim JCH, Turner RM, AnsteyM, Mitchell M, Mitchell IA, Hilman K: Non-beneficial treatments in hospital at the end of life: a systematic review on extent of the problem. International Journal for Quality in Health Care, 2016, 1–14
    1. Cheek DB (1962) Importance of recognizing that surgical patients behave as though hypnotized. Am J Clin Hypn 4:227–236
    1. Thöns M: Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende. Piper Verlag 2016
    1. Paragraf 136a Sozialgesetzbuch V
    1. Medizinethik: Ökonomisches Denken darf nicht im Vordergrund stehen. Dt. Ärzteblatt. 113 (2016) 1078
    1. Schleger H, Pargger H & Reiter-Teil S: „Futility” – Übertherapie am Lebensende? Gründe für ausbleibende Therapiebegrenzung in Geriatrie und Intensivmedizin. Palliativmedizin 2008; 9(2): 67-75.
    1. Maybaum, T: Hausarztzentrierte Versorgung: Hausärzte sind effektive Patientensteuerer. Dtsch Arztebl 2016; 113(25): A-1196 / B-1006 / C-990
    1. Thom (2015): Die orthopädische Zweitmeinung vermeidet 60 Prozent aller geplanten Operationen. im Internet (Zugriff am 01.06.2016) unter www.krankenkassen-direkt.de/news/mitteilung/Deutsche-BKK-Die-orthopaedische-Zweitmeinung-vermeidet-60-Prozent-aller-geplanten-Operationen-948352.html
    1. Grübler B: Therapiebegrenzung bei infauster Prognose: Wann soll das Leben zu Ende gehen? Dtsch Arztebl 2011; 108(26): A-1473 / B-1243 / C-1239
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