Immer wieder in den Schlagzeilen, im Fernsehen und im Radio: das Reizdarmsyndrom, kurz RDS, kennt inzwischen beinahe jeder. Denn kaum eine Erkrankung, schon gar nicht eine im Darmtrakt, hat in den letzten Jahren ein so starkes mediales Interesse hervorgerufen.
Doch warum? Allen voran, dass sie zunehmend diagnostiziert wird. Wenn auch häufig zu Unrecht. Schließlich landet ein Patient, wenn seine gastrointestinalen Beschwerden nicht zuzuordnen sind, schnell in der Schublade mit der Aufschrift RDS: Ursachen fraglich, Thesen dazu entsprechend mannigfaltig.
Das Dickicht der Spekulationen hat sich nun jedoch gelichtet. Das Rätsel um die Pathogenese des RDS ist inzwischen entschlüsselt.
Neue Sichtweise
Über viele Jahre, ja Jahrzehnte hinweg tappte die medizinische Forschung weitgehend im Dunkeln. Denn weder im Dünn- noch im Dickdarm fanden sich fassbare pathologische Nachweise für eine organische Störung. So verwies man die Betroffenen reihenweise in die Psychosomatik. Doch deren Therapieansätze halfen in der Regel nicht weiter. Wenig erstaunlich. Denn das RDS ist eine rein organische Erkrankung des Darms und nicht psychosomatisch bedingt. Entsprechend gibt es inzwischen eine vollkommen neue Sichtweise auf diese Darmerkrankung: Was den Darm so "reizt", ist eine gesteigerte Sensitivität der Nerven in der Mukosa.
Empfindlicher für Reize
Beim RDS ist die Empfindlichkeitsschwelle der Darmschleimhaut verschoben – nämlich erheblich nach unten. Bei Menschen, die unter einem RDS leiden, reagiert der Darm deshalb wesentlich empfindlicher auf Reize: Sie weisen eine veränderte zentrale Reizverarbeitung und eine Störung der Aktivierung der hemmenden absteigenden Nervenbahnen auf.
Dies zeigen unter anderem Untersuchungen wie die Dehnung des Darms mit einem Ballon, der sogenannten Ballondilatation. Dabei wird ein kleiner Ballon in das Rektum eingeführt. Diesen pumpt man so lange auf, bis das dem Untersuchten unangenehm wird. Diese Schmerzempfindung tritt bei Menschen mit einem RDS deutlich früher ein, als bei Gesunden. Denn bei ihnen sind kortikale Areale aktiviert, die für die Vigilanz, also für die vermehrte Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit gegenüber Stimuli verantwortlich sind [3].
Das Phänomen der verschobenen Reizschwelle der Darmwand belegen auch Untersuchungen, bei denen den Probanden eine Lösung mit Stoffen gegeben wurde, die Blähungen auslösen. Dann untersuchte man sie im MRT auf den Flüssigkeitsgehalt und das Volumen an Gasen im Darmbereich. Ergebnis: Die Zunahme von Luft und Flüssigkeit war bei beiden Gruppen gleich stark ausgeprägt. Nicht jedoch die Wahrnehmung der davon ausgelösten Symptome. Diese fiel bei RDS-Patienten erheblich stärker aus, als bei Gesunden.
Häufigste Auslöser
Dafür, dass die Darmwand hypersensitiv ist, zeichnet das Zusammenspiel mehrerer Auslöser verantwortlich. Das Risiko, am RDS zu erkranken, wird mithin multifaktoriell bedingt erhöht. Zu den bedeutsamsten Risikofaktoren für diese Erkrankung gehören die Gastroenteritis und die Einnahme von Antibiotika.
So steigert ein Infekt im Magen-Darm-Trakt die Gefährdung für das RDS ganz enorm – sie ist drei bis zwölf Mal höher [4]. Rund ein Drittel der davon betroffenen Patienten entwickeln später einen Reizdarm. Das ist unabhängig davon, wie lange die Infektion bereits zurück liegt und ob Viren oder Bakterien die Auslöser waren. Was ausschlaggebend ist, sind Schwere und Dauer der Gastroenteritis: je stärker und je länger, desto höher klettert das Risiko für ein späteres RDS. Was dann entsprechend seiner Genese "postinfektiöses Reizdarmsyndrom" genannt wird.
Als weiterer wichtiger Risikofaktor für das RDS wurde eine Antibiotika-Therapie identifiziert. Einerlei, ob diese im Kindesalter oder als Erwachsener erfolgte, hinterlässt sie Schäden in der Besiedlung der Darmschleimhaut. Moderne molekular-genetische Verfahren zeigen das deutlich: Bei der Analyse des Mikrobioms mit diesen Methoden findet sich eine regelrechte Kerbe, welche die Antibiotika hinterlassen haben. Dieser genetische Fingerabdruck im Bakterienrasen erhöht die Anfälligkeit für das RDS ebenso erheblich.
Diagnostik durch Ausschluss
Die Erkennung des RDS erfolgt stets durch eine Ausschlussdiagnostik. Denn es muss definitiv geklärt sein, dass andere gastrointestinale Erkrankungen nicht ursächlich für die Symptomatik sein können. Die Methoden, welche die Leitlinie dazu nennt, sind eine Gastroskopie und eine Koloskopie. Zudem sollte eine Ultraschalluntersuchung des Bauchraums und ein Blutlabortest erfolgen. Beim RDS vom Obstipations-Typ ist zu prüfen, ob möglicherweise Nahrungsmittelunverträglichkeiten bestehen.
Bei Frauen sollte immer auch eine gynäkologische Untersuchung stattfinden, um eventuelle Erkrankungen – unter anderem auch Krebs – an den Eierstöcken oder in der Gebärmutter auszuschließen. Denn da die Beschwerden beim RDS vielfach im unteren Bauchraum angesiedelt sind, ist die Verwechslungsgefahr mit gynäkologischen Befunden erhöht. So haben 80 bis 90 Prozent der Patientinnen mit einem Ovarialkarzinom vor der Diagnosestellung typische Reizdarmsymptome [5].
Behandlungsregeln beim RDS
Es gibt nicht die eine "Standardtherapie" für diese Darmerkrankung – angesichts ihrer Heterogenität nur logisch. Entsprechend hat man sich auf ein paar grundlegende Prinzipien zur Vorgehensweise bei der Therapie geeinigt.
Am führenden Symptom orientieren
Was bei den Beschwerden dominiert – also den Patienten am meisten belastet – sollte im Vordergrund der Behandlung stehen. Dazu ein Tipp für die Praxis: Den Patienten fragen, von welchem Symptom er als Erstes "befreit" werden möchte. Das gibt auf einfache Weise Aufschluss darüber, was den Betroffenen am meisten belastet.
Probatorisch behandeln
Eine Behandlung sollte zunächst zeitlich begrenzt durchgeführt werden; z. B. vier bis acht Wochen. Danach muss durch das Wiedereinbestellen des Patienten der Therapieerfolg kontrolliert werden.
Maßnahmen kombinieren
Behandlungsansätze, medikamentös oder nicht-medikamentös, können auch gemeinsam zum Einsatz kommen. Wann eine Monotherapie oder eine Kombination sinnvoll ist, hängt individuell vom Patienten ab.
Stichwort "symptomorientiert": je nach vorrangigem Problem kommen Vertreter verschiedener Arzneimittelgruppen zur Anwendung. Die medikamentöse Therapie des RDS ist demnach weit gefächert (siehe Tabelle).
Diätetische Maßnahmen
Beim RDS gibt es keine generellen Ernährungsempfehlungen. Allerdings zeigte sich: Bei einer ganzen Reihe von Patienten führt eine kohlenhydratarme Ernährung zur Besserung der Beschwerden. Entsprechend kann es sinnvoll sein, diese Ernährungsweise einmal auszuprobieren – über zwei Wochen hinweg, so die Empfehlung. Haben sich die Symptome dann spürbar gebessert, sollte der betreffende Patient die Diät fortsetzen.
Alternativmedizinische Verfahren
Als gute Option zur adjuvanten Therapie des Reizdarms gilt inzwischen die Akupunktur. Ihre Wirksamkeit hierzu wurde bereits in mehreren Studien nachgewiesen. Entsprechend empfiehlt auch die S3-Leitlinie diese Methode. Obwohl die Studienlage noch unzureichend ist, können auch Autogenes Training, Yoga sowie eine kognitive Verhaltenstherapie zur Unterstützung der Behandlung herangezogen werden. Denn die bisherigen Erfahrungen damit sind gut.
Eckdaten zum RDS
Gemäß der S3 Leitlinie der DGVS [1] handelt es sich beim RDS um eine "symptomdefinierte Erkrankung des gesamten Darmtrakts". Die Betroffenen haben länger als drei Monate anhaltende Darmsymptome. Sie treten einzeln oder kombiniert auf und schränken die Lebensqualität relevant ein. In klinischen Untersuchungen lässt sich kein pathologischer Befund feststellen. Es besteht keine gesteigerte Koprävalenz mit anderen schwerwiegenden gastrointestinalen Erkrankungen; wohl aber mit anderen schweren Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen.
Das RDS stellt eine bedeutende ökonomische Belastung für das Gesundheitssystem dar, da es enorme direkte und indirekte Kosten verursacht. Die Prävalenz in den Industrieländern beträgt epidemiologischen Studien zufolge 10 bis 20 Prozent [2]. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer: Das Verhältnis beträgt circa 55 zu 45.
Reizdarm ist nicht Reizdarm
Die Gastroenterologie unterscheidet folgende RDS-Typen voneinander:
-
Diarrhö-Typ: dominantes Symptom Durchfall
-
Obstipations-Typ: dominantes Symptom Verstopfung
-
Misch-Typ: Diarrhö und Obstipation annähernd gleich häufig im Wechsel
Literatur:
[1] Neue Deutsche S3 Leitlinie der DGVS: Z Gastroenterol 2011;49: 237 – 293. www.dgvs.de/wp-content/uploads/2016/11/Leitlinie_Reizdarmsyndrom.pdf
[2] Häuser et al. Dtsch Arztebl 2012
[3] Silverman D. H. et al. Gastroenterology 1997
[4] Spiller R., Lam C. Neurogastroenterol Mot 2012; 18: 258 – 268.
[5] Hamilton et al. BMJ 2009
Reizdarm ist nicht
gleich Reizdarm
Die Gastroenterologie unterscheidet folgende RDS-Typen voneinander:
Diarrhö-Typ: dominantes Symptom Durchfall
Obstipations-Typ: dominantes Symptom Verstopfung
Misch-Typ: Diarrhö und Obstipation annähernd gleich häufig im Wechsel