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Depressive StörungenWelches Antidepressivum ist das richtige?

Unter alleinigem Einsatz von Psychotherapie bessern sich depressive Störungen oft nicht. Daher sollten Sie rasch auch medikamentöse Behandlungsoptionen anbieten. Hier kommt es vor allem darauf an, die Nebenwirkungsprofile der Substanzen zu kennen und angepasst an die Bedürfnisse der Patienten zu beraten. Dazu auch eine tabellarische Übersicht im Beitrag.

Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe eines Lebens an einer depressiven Störung zu erkranken, liegt bei rund 13 Prozent.

Die 12-Monats-Prävalenz depressiver Störungen liegt bei circa 6 Prozent; die Wahrscheinlichkeit, im Laufe eines Lebens zu erkranken, ist mit circa 13 Prozent mehr als doppelt so hoch [5]. Die Kenntnis möglicher Behandlungsoptionen ist daher für jeden Arzt in allen Bereichen des Gesundheitssystems von großer Bedeutung.

Vor allem hausärztlich Tätige sind oft erste Anlaufstelle für betroffene Patienten – für sie ist es also besonders wichtig, evidenzbasiert und auf dem neuesten Stand beraten und behandeln zu können. In diesem Zusammenhang gilt es Betroffenen vor allem zu vermitteln, dass es sich um ein zwar häufiges, aber auch gut behandelbares Krankheitsbild mit Chance auf vollständige Genesung handelt.

Neben der diagnostischen Einordnung, die klinisch in Deutschland aktuell noch nach den Kriterien des ICD-10 erfolgt (siehe Abbildung unten), ist insbesondere die Vorgeschichte von großer Bedeutung.

Zusätzlich zur aktuellen Symptomatik und den Belastungsfaktoren in Zusammenhang mit dem Auftreten sollten Sie frühere ähnliche Episoden erfragen.

Darüber hinaus ist die biografische Anamnese insofern wichtig, als dass Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt, aber auch frühe traumatische Erlebnisse (“die ersten 1.000 Tage”) und fehlende Bindungserfahrungen im Heranwachsen die Vulnerabilität für psychische Erkrankungen deutlich erhöhen können und entsprechend während des Behandlungsprozesses, vor allem im therapeutischen Kontext, Berücksichtigung finden sollten.

Darüber hinaus müssen somatische Ursachen für depressive Syndrome wie beispielsweise Schilddrüsenfunktionsstörungen laborchemisch, aber auch entzündliche ZNS-Erkrankungen mittels zerebraler Magnetresonanztomografie ausgeschlossen werden. Auch ist zu prüfen, ob betroffene Patienten eine Medikation einnehmen, die depressive Symptome nach sich ziehen kann.

Remission als Ziel

In der Behandlung depressiver Störungen hat sich der Fokus in den vergangenen Jahren weg von einer reinen Symptomlinderung hin zu dem Behandlungsziel einer vollständigen Gesundung entwickelt. Darüber hinaus sind vor allem die Förderung und der Aufbau psychischer Widerstandskraft (Resilienz) wichtiger Gegenstand der Therapie.

Dafür sind neben medikamentösen Ansätzen und psychotherapeutischer Behandlung vor allem Lifestyle-Modifikation, der Abbau externer Stressfaktoren und das Erlernen neuer Umgangsformen mit herausfordernden Situationen von Bedeutung.

Betroffene sollten eine Psychoedukation (also Informationen über Entstehungsmechanismen und krankheitsauslösende sowie aufrechterhaltende Faktoren) erhalten, um die eigene Selbstwirksamkeit zu steigern [2].

Basisprogramm

Die empfohlenen Lebensstilveränderungen (siehe Tabelle 1 unten) enthalten vor allem regelmäßige Bewegung, Schlafhygiene, die Wiederaufnahme und Aufrechterhaltung sozialer Kontakte, gesunde, eher mediterrane Ernährung, aber auch kognitive Stimulation und Lern- sowie Naturerfahrung.

Menschen, die in einer grünen, naturnahen Umgebung leben, haben nachweislich eine geringere Stresserwartung, weniger depressive Symptome und Angstsymptome, eine bessere Emotionsregulation und sind körperlich aktiver [7].

Diesbezügliche therapeutische Ansätze wie regelmäßige Aktivierung im Wald (“forest therapy”) oder auch Verhaltenstherapie in der Natur werden in Ländern wie Japan und Korea seit vielen Jahren erforscht und zeigen deutlich positive Effekte [8].

Das regelmäßige Betrachten von Wasserfällen scheint sich ebenfalls günstig auf Fatigue-Symptome auszuwirken – auf der Basis von Immunmodulation und Antiinflammation unter anderem auch in Zusammenhang mit Aerosolbildung [9]. So könnte eine Reise an die See nicht nur für Lungenerkrankte empfehlenswert sein.

Psychotherapie

Psychotherapeutisch sind vor allem die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die interpersonelle Psychotherapie (IPT), die psychodynamische Kurztherapie (PDT) und die Gesprächspsychotherapie evaluiert und evidenzbasiert empfohlen [11], obschon zu beachten bleibt, dass die meisten Psychotherapie-Studien die Behandlung gegenüber Warteliste vergleichen, was letztlich Nocebo-Effekte unterstützt und resultierend falsch positive Ergebnisse erbracht haben könnte [12].

Neben den Face-to-Face-Therapien etablieren sich, sicherlich beschleunigt durch die Covid-19-Pandemie, zusätzlich immer mehr digitale Angebote zur Behandlung psychischer Erkrankungen.

Neben der Videosprechstunde sind in diesem Zusammenhang vor allem die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) und Apps zu erwähnen. Hierbei handelt es sich um teilweise angeleitete, teilweise ungeleitete Selbstmanagement-Interventionen (zum Beispiel moodgym), welche neben edukativen Inhalten insbesondere Aktivitätenaufbau und den Abbau dysfunktionaler Kognitionen fördern.

Etablierte Anwendungen finden sich in Deutschland im DiGA-Verzeichnis (https://diga.bfarm.de). Dort gelistete Angebote können Ärzte und Psychotherapeuten auf Rezept verordnen. Die Kosten trägt bei entsprechender Diagnosestellung die Krankenkasse. Insbesondere geleitete Anwendungen scheinen deutlich positive Effekte zu erbringen [13].

Welche Medikation?

Frühere Empfehlungen orientierten sich vor allem am Schweregrad der Depression, um zu entscheiden, ob eine medikamentöse Behandlung benötigt wird oder nicht. Dieses Vorgehen wird in Anbetracht der bestehenden Datenlage zunehmend verlassen: Es wurde deutlich, dass eine kombinierte Behandlung bestehend aus Basisprogramm, Psychotherapie und Medikation die effektivste Behandlung depressiver Störungen darstellt [2].

Bei der Auswahl der antidepressiv wirksamen Medikation sollten Sie zunächst erfragen, ob es bereits bei früheren Episoden eine Vorbehandlung gab und ob diese hilfreich und verträglich war. Wenn ja wird empfohlen, die in der Vergangenheit gut wirksame Behandlung wieder einzusetzen.

Bei medikamentöser Neueinstellung ist vor allem die Wirksamkeit, aber auch die Verträglichkeit zu berücksichtigen. Allen zugelassenen und verfügbaren antidepressiv wirksamen Substanzen konnte eine signifikante Überlegenheit gegenüber einer Placebo-Behandlung nachgewiesen werden [14].

Trotzdem gibt es Unterschiede in der Wirksamkeit. Medikamente mit breitem Wirkansatz, beispielsweise die alten trizyklischen Antidepressiva, scheinen eine bessere Wirksamkeit aufzuweisen als neuere, selektivere Substanzen, jedoch ist auch das Spektrum potenzieller Nebenwirkungen deutlich höher.

Dies sollten Sie unbedingt berücksichtigen, da die unerwünschten Arzneimittelwirkungen zumeist einen therapielimitierenden Faktor darstellen. Neben sexueller Dysfunktion und Gewichtszunahme können unter anderem Herz-Kreislauf-Veränderungen, gastrointestinale Nebenwirkungen, aber auch Hepatotoxizität auftreten [15].

Auch die Kenntnis möglicher Interaktionen hilft bei der individuellen Auswahl einer Medikation. In Tabelle 2 sind die am häufigsten angewandten Substanzen mit ihren jeweiligen Vorzügen und Nachteilen zusammengestellt.

Eine rasche Abnahme der von Betroffenen als am meisten beeinträchtigend wahrgenommenen Symptome wie Müdigkeit, Freudlosigkeit, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite sowie Ängste verspricht ein besseres Behandlungs-Outcome sowie eine zuverlässigere Adhärenz und Patientenzufriedenheit [16].

Zur Förderung der Compliance sollten Sie nach Verordnung zeitnah einen Arzttermin vereinbaren, um die Verträglichkeit abzufragen.

Wie vorgehen?

In der Eindosierungsphase gilt die Prämisse “start low, go slow”, um möglichst unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu vermeiden [2]. Zunächst sollten Sie entsprechend vorsichtig bis zur angestrebte Zieldosis aufdosieren.

Bei nicht hinreichender Wirkung wird geraten, den möglichen Dosisbereich weiter auszureizen. Sollte dies zu keiner Zustandsverbesserung führen, kann die Medikation um zum Beispiel Mirtazapin (7,5 mg-30 mg), Lithium oder ein niedrig dosiertes Antipsychotikum der neueren Generation wie beispielsweise Aripiprazol oder Quetiapin ergänzt werden.

Ein Benefit von einer Hinzugabe eines weiteren Präparats ist vor allem dann zu erwarten, wenn unter Monotherapie bereits eine beginnende Verbesserung eingetreten war. Sollte auch nach Augmentation keine wesentliche Zustandsveränderung auftreten, wird empfohlen, eine andere antidepressiv wirksame Substanzgruppe, vorzugsweise mit anderem Wirkmechanismus, zu verordnen.

Nach Gabe von drei Substanzen über je mindestens 14 Tage in ausreichend hoher Dosierung ohne hinreichenden Effekt sollte eine Therapieeskalation mit beispielsweise Esketamin oder auch die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) erwogen werden.

Fazit

Ziel der Behandlung depressiver Störungen ist eine vollständige Remission, da nur dadurch das Rückfallrisiko minimiert werden kann. Das Basisprogramm für mentale und körperliche Gesundheit bildet in der Behandlung für alle Schweregrade die Grundlage.

Da unter alleinigem Einsatz von Psychotherapie über die Hälfte der Betroffenen nicht remittiert [17], sollten zur Verbesserung des Outcomes auch rasch medikamentöse Therapieoptionen angeboten werden. Hausärzte sind in der Regel primäre Ansprechpartner und verordnen oft auch die erste Medikation.

Daher ist es von enormer Bedeutung, mit den Substanzen, deren Wirkmechanismen, aber auch deren Fallstricke vertraut zu sein [18]. Daten aus Australien weisen darauf hin, dass sich die Auswahl der verordneten Medikation zwischen Fachärzten für Psychiatrie und Hausärzten unterscheidet – so setzen Hausärzte häufiger trizyklische Antidepressiva ein, die jedoch potenziell nebenwirkungs- und interaktionsträchtiger sind als zum Beispiel selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer.

Da Antidepressiva noch mindestens sechs Monate nach Genesung der ersten Episode eingenommen werden sollten, ist es besonders wichtig, die Nebenwirkungsprofile der Substanzen zu kennen und angepasst an die Bedürfnisse der Patienten zu beraten.

Interessenkonflikte:

D. Linsmayer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

D. F. Braus erklärt, dass er sich bei der Erstellung des Beitrags nicht von wirtschaftlichen Interessen leiten ließ. Er legt die folgenden potenziellen Interessenkonflikte offen: produktneutrale Vortragstätigkeit über Verträge für Lilly Deutschland, Janssen-Cilag, Bayer, Lundbeck, Pfizer, Shire, Medice, TAD Pharma, Sanofi, Sunovion, Recordati, MSD, Idorsia, Boehringer-Ingelheim.

Literatur:

  1. Baune, B.T., et al., Organising the front line: Is there a rationale for the first-line pharmacotherapy of major depressive disorder? Aust N Z J Psychiatry, 2019. 53(4): p. 279-281.
  2. Malhi, G.S., et al., The 2020 Royal Australian and New Zealand College of Psychiatrists clinical practice guidelines for mood disorders: Major depression summary. Bipolar Disord, 2020. 22(8): p. 788-804.
  3. Arterburn, D., et al., Long-Term Weight Change after Initiating Second-Generation Antidepressants. J Clin Med, 2016. 5(4).
  4. Henssler, J., et al., Antidepressant Withdrawal and Rebound Phenomena. Dtsch Arztebl Int, 2019. 116(20): p. 355-361.
  5. Bromet, E., et al., Cross-national epidemiology of DSM-IV major depressive episode. BMC Med, 2011. 9: p. 90.
  6. Bundesärztekammer (BÄK), K.B.K., Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Leitlinienreport. 2022. Version 3.0.
  7. Pun, V.C., J. Manjourides, and H.H. Suh, Association of neighborhood greenness with self-perceived stress, depression and anxiety symptoms in older U.S adults. Environ Health, 2018. 17(1): p. 39.
  8. Kim, W., et al., The effect of cognitive behavior therapy-based psychotherapy applied in a forest environment on physiological changes and remission of major depressive disorder. Psychiatry Investig, 2009. 6(4): p. 245-54.
  9. Zhu, Z., et al., Waterfall Forest Environment Regulates Chronic Stress via the NOX4/ROS/NF-κB Signaling Pathway. Front Neurol, 2021. 12: p. 619728.
  10. Linsmayer, D., P.K. Neidlinger, and D.F. Braus, Rheuma und Psyche – Eine Kurzübersicht. Der Orthopäde, 2019. 48(11): p. 957-962.
  11. Cuijpers, P., Four decades of outcome research on psychotherapies for adult depression: An overview of a series of meta-analyses. Canadian Psychology / Psychologie canadienne, 2017. 58: p. 7-19.
  12. Patterson, B., et al., The use of waitlists as control conditions in anxiety disorders research. J Psychiatr Res, 2016. 83: p. 112-120.
  13. Karyotaki, E., et al., Internet-Based Cognitive Behavioral Therapy for Depression: A Systematic Review and Individual Patient Data Network Meta-analysis. JAMA Psychiatry, 2021. 78(4): p. 361-371.
  14. Cipriani, A., et al., Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet, 2018. 391(10128): p. 1357-1366.
  15. Volz, H.-P., Praktische Aspekte der antidepressiven Pharmakotherapie. CME, 2022. 19(12): p. 21-29.
  16. Baune, B.T., et al., Patient Expectations and Experiences of Antidepressant Therapy for Major Depressive Disorder: A Qualitative Study. Neuropsychiatr Dis Treat, 2021. 17: p. 2995-3006.
  17. Cuijpers, P., et al., The effects of psychotherapies for depression on response, remission, reliable change, and deterioration: A meta-analysis. Acta Psychiatr Scand, 2021. 144(3): p. 288-299.
  18. Malhi, G.S., et al., Antidepressant prescribing patterns in Australia. BJPsych Open, 2022. 8(4): p. e120.
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