Experten Interview“Palliativmedizin ist für alle da, die sie brauchen”

Der Anteil von Patienten, die Palliativversorgung erhalten, aber nicht an einem Tumor leiden, beträgt teilweise bis zu 40 Prozent. Der Palliativmediziner Dr. med. Christoph Gerhard, Dinslaken, erläutert im Expertengespräch, dass es nicht von bestimmten Diagnosen oder Krankheitsbildern abhängt, ob jemand Palliativversorgung benötigt, sondern vom Bedarf: Palliativmedizin ist für alle da, die sie brauchen.

Voraussetzungen für palliativmedizinische Leistungen ist – so die rechtliche Definition – eine unheilbare, fortschreitende und die Lebenszeit begrenzende Erkrankung.

Welche Krankheitsbilder sind neben Tumorleiden am häufigsten Anlass für palliativmedizinische Versorgung?

Gerhard: Eine der Voraussetzungen für palliativmedizinische Leistungen ist – so die rechtliche Definition – eine unheilbare, fortschreitende und die Lebenszeit begrenzende Erkrankung. Das ist oft ein Tumor, kann aber auch eine fortgeschrittene internistische oder neurologische Erkrankung sein wie Herzinsuffizienz, COPD, Schlaganfall oder ALS.

Wie findet man heraus, ob ein Patient unabhängig von der Art seiner Erkrankung palliative Unterstützung benötigt?

Hier gibt es oft Barrieren, weil viele Nicht-Tumorpatienten still leiden. Manche können ihre Beschwerden nicht mitteilen, weil sie nicht sprechen können oder aufgrund kognitiver Einschränkungen das Wort “Schmerz” nicht parat haben. Bei diesen Menschen ist die Gefahr der Unterversorgung sehr groß. Es ist in der hausärztlichen Praxis daher wichtig, dass wir das Leiden der Patienten erkennen, indem wir aktiv nach Symptomen suchen.

Worin unterscheiden sich allgemeine und spezialisierte ambulante Palliativversorgung?

Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass SAPV-Teams eine 24/7-Rundumversorgung an 365 Tagen anbieten, die niedergelassene Hausärzte im Rahmen der AAPV kaum leisten können.

Wie grenzt der Gesetzgeber AAPV und SAPV ab?

In der SAPV-Richtlinie des G-BA ist der Bedarf an besonders aufwändiger Versorgung das entscheidende Kriterium. Dieser Bedarf liegt bei einem komplexen Symptomgeschehen vor, das spezifische palliativmedizinische/palliativpflegerische Kenntnisse erfordert und ein interdisziplinäres Konzept voraussetzt, das vor allem zwischen Ärzten und Pflegekräften abgestimmt ist.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

AAPV und SAPV sind ein Stufenmodell. Treten zum Beispiel im Verlauf einer Tumorerkrankung starke Schmerzen auf, die mit Metamizol (“Novalgin”) beherrschbar sind, kann die AAPV das abdecken. Werden die Schmerzen aber stärker und kommen Schmerzkrisen oder Durchbruchschmerzen hinzu, die eine komplizierte Opioidtherapie erfordern, liegt ein komplexes Symptomgeschehen vor, für das die SAPV zuständig ist.

Ist AAPV in Deutschland inzwischen ausreichend verfügbar?

Leider nicht. Daher muss die SAPV in vielen Situationen einspringen, die eigentlich mit AAPV zu beherrschen wären. Grund für das AAPV-Defizit ist nicht etwa nur ein Mangel an entsprechend qualifizierten Kolleginnen und Kollegen, sondern auch die in manchen Regionen Deutschlands schlechte Vergütung von AAPV-Leistungen.

Es gibt aber doch viele Niedergelassene, die sich sehr stark in allgemeiner oder spezialisierter ambulanter Palliativversorgung engagieren. Diese wehren sich zum Teil gegen Bestrebungen, die Mitarbeit in einem SAPV-Team nur zu erlauben, wenn man 75 Prozent seiner Arbeitskraft in der SAPV leistet.

Das ist in der Tat ein kontroverses Thema. Die Qualität von SAPV hängt ganz besonders davon ab, dass ein eingespieltes Team rund um die Uhr sofort einsatzbereit ist. Mit solchen SAPV-Konzepten können wir heute bis zu 90 Prozent der Patienten den Wunsch erfüllen, zu Hause zu sterben.

Kann ein hauptberuflich hausärztlich tätiger Kollege nicht sofort zu einem Palliativpatienten mit akuter Luftnot kommen – etwa weil das Wartezimmer am Montagmorgen voll ist –, besteht die Gefahr, dass dieser Patient entgegen seinem Willen in ein Krankenhaus eingewiesen wird. Das ist nicht die Idee hinter SAPV!

Sie beschäftigen sich intensiv mit Advance Care Planning (ACP). Welche Tipps können Sie den niedergelassenen Kollegen hier geben?

Advance Care Planning sollte frühzeitig erfolgen, damit die Patienten auf Notfälle vorbereitet sind. Die meisten der von unserem SAPV-Team Betreuten haben eine Notfallbox mit verschiedenfarbigen Bechern. In einem ist ein schnell wirksames Mittel gegen Durchbruchschmerzen, in einem etwas für Luftnotattacken, in einem anderen etwas gegen Angstzustände, im vierten etwas gegen Übelkeit.

Das ermöglicht den Patienten in vielen Situationen Selbstmanagement. Wenn sie nachts um zwei Uhr Luftnot bekommen, können sie in Absprache mit dem SAPV-Team überlegen, das dafür bereitstehende Mittel zu nehmen. Die Patienten müssen jedenfalls nicht warten, bis jemand kommt, etwas verordnet oder nachts aus der Apotheke holt.

Um die Autonomie der Patienten bestmöglich zu erhalten, muss die Vorausplanung aber noch weitergehen: Was ist im Fall einer bestimmten akuten Verschlimmerung zu tun? Soll eine Infektion antibiotisch behandelt werden? Ist ein plötzlicher Herzstillstand die willkommene Krise, um das Leiden nicht länger ertragen zu müssen? Will ein Patient ins Krankenhaus oder lieber zu Hause sterben? All diese Vorausplanungen sollten nicht erst mit dem Erreichen von SAPV erfolgen, sondern gehören auch schon zur AAPV.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Suizidwünschen von Schwerstkranken, wie reagieren Sie darauf?

Dass eine starke Bedrohung der Autonomie zu Todeswünschen führen kann, ist nur zu gut nachvollziehbar. Nach meiner Erfahrung darf man solche Gedanken nicht tabuisieren, sondern muss sie offen besprechen.

Ganz wichtig dabei: Es geht hier nicht um die eigenen Überzeugungen, sondern um die der Patienten. Ich würde das als eine Haltung von “Demut” bezeichnen. Dadurch kehrt sich die übliche Hierarchie um, denn es sind die Patienten, die mit dem Sterben konfrontiert sind und gerade erfahren, wie das geht, während die Ärzte hier nur mit ihrem Fachwissen begleiten können.

Man muss die Patienten mit ihren Bedürfnissen ernst nehmen und die Motivation dahinter herausfinden. Meistens schmelzen Todeswünsche dabei schnell dahin, zum Beispiel wenn man einem ALS-Patienten erklärt, dass er mit einem Sprachcomputer oder einem Elektrorollstuhl seine Autonomie wahren kann.

Und wenn die Patienten bei ihrem Todeswunsch bleiben?

Das habe ich bislang nur in wenigen Fällen erlebt. Dann gilt es, individuell die bestmögliche Lösung zu finden, um das Leiden des Betroffenen zu lindern. Zum Beispiel muss ein Patient unter einer palliativen Sedierung sein Leiden nicht wachen Auges erleben, wenn er dies so nicht aushalten kann. Die palliative Sedierung ist dabei, wenn sie entsprechend den gültigen Richtlinien durchgeführt wird, eine Maßnahme der Symptomlinderung, aber nicht der Lebensverkürzung.

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