New Haven. Ein neuer experimenteller Antikörper könnte die Alzheimer-Therapie entscheidend voranbringen: In einer Phase-III-Studie verlangsamte der Antikörper „Lecanemab“ das klinische Voranschreiten der Erkrankung und den kognitiven Abbau über einen Zeitraum von 18 Monaten. Die Studie wurde vor wenigen Tagen bei der „Clinical Trials on Alzheimer’s Disease“-Tagung (CTAD) vorgestellt und parallel im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht.
Allerdings zeigten sich bei einem Teil der 1.795 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer auch Nebenwirkungen. So wurden in der Verum-Gruppe im MRT bei 12,6 Prozent (versus 1,7 Prozent unter Placebo) Hirnödeme und bei 17,3 Prozent (versus 9 Prozent unter Placebo) intrazerebrale Mikroblutungen festgestellt, wobei diese in den meisten Fällen mild bis moderat und selbstlimitierend waren.
“Science” berichtet von Todesfall
Diese so genannten ARIA („amyloid-related imaging abnormalities“, also Anomalien in der Bildgebung) sind spezifische Nebenwirkungen von Anti-Amyloid-Antikörpern und waren zuvor bereits bei anderen experimentellen Antikörpern aufgetreten. Sie bleiben häufig klinisch stumm. Insgesamt war die Inzidenz von ARIA bei Lecanemab im Vergleich zu anderen Antikörpern niedrig.
Von einem unveröffentlichten Fallbericht mit schwerwiegenderen Nebenwirkungen berichtet indes das Fachmagazin „Science“: Nach Gabe des Antikörpers seien bei einer Studienteilnehmerin Hirnödeme und Hirnblutungen festgestellt worden. Die Patientin habe einen Schlaganfall und nach einer daraufhin durchgeführten Lyse Blutungen innerhalb der Dura mater erlitten. Sie sei nach einigen Tagen verstorben. Ein Neuropathologe vermutet in dem Bericht, die Gabe von Lecanemab könnte die Blutgefäße geschwächt haben, die aufgrund der Lyse durchlässig wurden.
Kein Medikament zur Heilung
Die Nutzen-Risiko-Abwägung zu Lecanemab ist also nicht ganz einfach. „Grundsätzlich sehe ich in dieser nach bestem Standard durchgeführten Studie einen Meilenstein für die Alzheimer-Forschung“, meint Professor Frank Jessen, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Alzheimerforschung am Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).
„Man muss aber auch sagen: Es gibt schwere Nebenwirkungen, möglicherweise müssen Kontraindikationen wie Blutgerinnungsstörungen oder die Einnahme von Antikoagulanzien beachtet werden“, betonte Jessen bei einer Veranstaltung des „Science Media Centers“ und fügte hinzu: „Und man muss zwei Dinge klarstellen: Der Antikörper ist kein Medikament, das Alzheimer heilt. Und er ist nur für eine kleine Patientengruppe geeignet.“
Genauer gesagt: Nur für Patientinnen und Patienten in einem sehr frühen Stadium einer Alzheimer-Erkrankung. „Wir reden hier von einem kleinen Therapie-Zeitfenster von drei bis vier Jahren bei einer symptomatischen Erkrankungsphase von vielleicht 15 Jahren“, stellte Jessen klar.
Erkrankung schreitet langsamer voran
Die Teilnehmer der Lecanemab-Studie zeigten milde kognitive Einschränkungen oder milde Demenz aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung und einen klinischen Amyloid-Nachweis über PET oder Liquor. Ein Teil der Probanden erhielt alle zwei Wochen Lecanemab i.v., der andere Teil ein Placebo.
Primärer Studienendpunkt waren Veränderungen im Demenz-Score „Clinical Dementia Rating–Sum of Boxes“ (CDR-SB), der von 0 bis 18 geht, wobei die kognitive Störung umso ausgeprägter ist, je höher der Wert ist. Ein Wert von 0,5 bis 6 weist auf eine frühe Alzheimer-Erkrankung hin.
Ergebnis: Der CDR-SB-Score lag zu Studienbeginn in beiden Gruppen bei 3,2 Punkten. In der Lecanemab-Gruppe verschlechterte sich der Wert innerhalb von 18 Monaten um 1,21, in der Placebo-Gruppe um 1,66 Punkte – ein statistisch signifikanter Unterschied von -0,45 Punkten. In beiden Gruppen schritt die Erkrankung also voran, in der Verum-Gruppe allerdings signifikant langsamer.
Weniger Amyloid-Ablagerungen
Für Jessen sind das sehr gute Daten, Dr. Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative, schränkt in einer Stellungnahme der Initiative dagegen ein: „Die Verbesserung der Kognition ist nur sehr moderat. Es ist deshalb fraglich, wie stark dieser Effekt für Betroffene spürbar ist und tatsächlich im Alltag einen Unterschied macht.“
Dennoch sei sie „vorsichtig optimistisch“, die Wirkung des Antikörpers habe sich im Studienverlauf verstärkt. Eine längere Gabe könne daher zu noch stärkeren Effekten führen.
Ein sekundärer Endpunkt der Studie waren in der PET (Positronen-Emissions-Tomografie) feststellbare Veränderungen der Amyloid-Ablagerungen (diese Analyse wurde in einer Subgruppe mit rund 700 Teilnehmern durchgeführt). Auch hier zeigten sich ähnlich gute Ergebnisse wie beim primären Endpunkt: Während in der Verum-Gruppe die Amyloid-Ablagerungen abnahmen (-55,48 Centiloide, was bei einem Ausgangswert von 77,92 Centiloiden eine deutliche Reduzierung bedeutet), nahmen sie in der Placebo-Gruppe zu (+3,64 Centiloide).
Was sagen die Experten?
„Von einer Monotherapie sind eigentlich keine besseren Ergebnisse zu erwarten“, betonte Jessen. Stärkere Effekte ließen sich wohl nur mit Kombinationstherapien erreichen. Für ihn wäre es „ein Schlag ins Gesicht der Patienten“, würde das Medikament nicht zugelassen.
In den USA wird Lecanemab bereits in einem beschleunigten Zulassungsverfahren geprüft. Jessen erwartet eine Zulassung in Europa für das kommende Jahr.
Linda Thienpont sagte auch mit Blick auf den berichteten Todesfall, es müsse genau abgewogen werden, ob Nutzen und Risiken in einem vertretbaren Verhältnis stehen. „Im Falle einer Zulassung des Medikaments wird eine engmaschige ärztliche Kontrolle bei der Behandlung nötig sein. Es muss außerdem genauer eingegrenzt werden, welche Patientinnen und Patienten für eine Behandlung in Frage kommen.“
Man müsse zudem bedenken: Die Substanz werde alle zwei Wochen intravenös verabreicht und initial werde alle drei Monate ein MRT-Scan gemacht, so Professor Stefan Teipel vom DZNE. „Das ist ein wahnsinniger Aufwand und eine große Belastung für die Patienten. Was gewinne ich in den 18 Monaten und was geht dadurch an Lebensqualität vielleicht auch verloren? Das muss man gegeneinander abwägen.“
In der Diskussion steht zudem weiter die Frage, ob Amyloid-Beta überhaupt der richtige Ansatzpunkt für eine Therapie ist (siehe auch Kasten oben). „Es ist eine Zielschreibe, es sind gute Studiendaten, aber ob es die richtige Zielschreibe ist, das weiß ich nicht“, resümierte Professor Hans-Ulrich Demuth, Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Quelle: doi 10.1056/NEJMoa2212948