Amsterdam. Die europäische Arzneimittel-Behörde EMA hat für die EU erstmals grünes Licht für eine Alzheimer-Therapie gegeben, die auf den Krankheitsprozess abzielt. Die Behörde empfahl die Zulassung des Antikörpers Lecanemab zur Behandlung von leichter kognitiver Beeinträchtigung oder leichter Demenz in einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit. Bisherige Alzheimer-Therapien wie Cholinesterasehemmer oder Memantine behandeln nur Symptome der Krankheit. Lecanemab baut Amyloid-Plaques ab und setzt damit am Krankheitsprozess an – gleichwohl ist nach wie vor nicht eindeutig wissenschaftlich belegt, dass Amyloid tatsächlich die Ursache von Alzheimer ist.
Wichtig: Bei der EMA-Empfehlung gibt es allerdings eine Einschränkung: Das Mittel solle nur für Alzheimer-Patienten verwendet werden, die nur eine oder keine Kopie von ApoE4 haben, einer bestimmten Form des Gens für das Protein Apolipoprotein E. Denn bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit für bestimmte schwerwiegende Nebenwirkungen – Schwellungen und Blutungen im Gehirn – geringer als bei Menschen mit zwei ApoE4-Kopien.
Diese Nebenwirkungen sind auch als Amyloid-assoziierte Bildgebungsanomalien (ARIA) bekannt. Auch bei den anderen gegen Amyloid-Beta gerichteten Antikörpern Aducanumab und Donanemab traten diese auf.
Zunächst abgelehnt
Noch steht die Entscheidung durch die EU-Kommission aus. Diese folgt bei der Zulassung aber für gewöhnlich dem Votum der Behörde. Hersteller von Lecanemab sind die Pharmaunternehmen Eisai (Japan) und Biogen (USA). Im Juli hatte die EU-Arzneimittelbehörde eine Zulassung noch abgelehnt: Das Risiko schwerer Nebenwirkungen des Antikörpers sei höher zu bewerten als die erwartete positive Wirkung, hieß es damals. Die Hersteller hatten daraufhin eine zweite Prüfung beantragt und weitere Subgruppenanalysen der Hauptstudie (CLARITY AD) vorgelegt, die 1.521 Personen mit einer oder keiner ApoE4-Kopie auswertete.
Der Humanarzneimittelausschuss (CHMP) der EMA kam nun zu dem Schluss, dass in der begrenzten Population, die bei der erneuten Prüfung untersucht wurde, der Nutzen von Lecanemab bei der Verlangsamung des Fortschreitens der Krankheitssymptome größer ist als die Risiken. Bei der ersten Prüfung waren noch keine Untergruppenanalysen berücksichtigt worden, sondern alle Patienten. Die Studie testete Lecanemab gegen Placebo über 18 Monate.
Nebenwirkungen in der Untergruppe seltener
Bei den mit Lecanemab behandelten Studienteilnehmenden mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie traten demnach bei 8,9 Prozent Ödeme im Gehirn (ARIA-E) auf, im Mittel aller Untersuchten bei 12,6 Prozent. Mikroblutungen im Gehirn (ARIA-H) gab es bei 12,9 Prozent der Personen mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie, verglichen mit 16,9 Prozent der breiteren Population. Bei den Menschen mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie, die mit Placebo (einer Scheinbehandlung) behandelt wurden, lagen die Werte für Schwellungen (ARIA-E) bei 1,3 Prozent und für Blutungen (ARIA-H) bei 6,8 Prozent, wie es von der EMA hieß.
Hauptmaßstab für die Wirksamkeit war die Veränderung der kognitiven und funktionellen Symptome nach 18 Monaten, die anhand einer Demenzbewertungsskala (CDR-SB) gemessen wurde. Die Skala reicht von 0 bis 18, wobei höhere Punktzahlen eine stärkere Beeinträchtigung anzeigen. Mit Lecanemab behandelte Personen wiesen nach 18 Monaten im Mittel einen etwas geringeren Anstieg des Wertes auf: Im Schnitt erzielten die Probanden zu Beginn der Studie 3,2 Punkte, was zu einer leichten kognitiven Störung zählt. Nach 18 Monaten lag der Wert unter Lecanemab bei 4,41 (Placebo 4,86).
Dieser Unterschied von absolut nur 0,45 Punkten würde von den Betroffenen wahrscheinlich als nicht klinisch relevant bemerkt, kommentierte Prof. Bernd Mühlbauer von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft noch im September diesen Jahres.
Regelmäßige Kontrollen nötig
Die EMA betont in ihrer Stellungnahme, dass es zwingend Maßnahmen zur Risikominimierung geben müsse. Vor Beginn der Behandlung und vor der 5., 7. und 14. Lecanemab-Dosis müssten bei den Menschen demnach MRT-Scans stattfinden, zusätzliche Scans bei Warnzeichen wie Kopfschmerzen, Sehstörungen und Schwindel.
Zudem soll es begleitende Fach- und Patienteninformationen geben, Nach der Zulassung soll der Hersteller eine Sicherheitsstudie beginnen, um die Häufigkeit von ARIA sowie die Wirksamkeit der Maßnahmen zu ermitteln.
Der Antikörper, der seit Anfang 2023 bereits unter dem Handelsnamen Leqembi in den USA zugelassen ist, soll das Proteinfragment beta-Amyloid aus dem Gehirn entfernen. “Amyloid-Beta steht vermutlich am Beginn einer Kaskade der neuronalen pathologischen Veränderungen im Gehirn”, erklärte Jörg Schulz von der Uniklinik Aachen, Sprecher der Kommission “Demenz und Kognitive Störungen” der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
Einsatz umstritten
Lecanemab bessert aber die Symptomatik nicht, sondern soll lediglich das Fortschreiten der Krankheit bremsen. Daher wird er nur für Betroffene im frühen Stadium der Erkrankung empfohlen. Verabreicht wird der Antikörper alle zwei Wochen durch eine intravenöse Infusion, die unter Aufsicht erfolgen muss.
Bei einer Veranstaltung des Science Media Centers wurde deutlich, dass nach wie vor nicht jeder von der Anwendung überzeugt ist. Prof. Peter Berlit von der DGN bezeichnete es als “ersten Schritt”, dass die Erkrankten laut Zulassungsstudie in 1,5 Jahren (untersuchter Zeitraum) etwa ein halbes Jahr länger in der frühen Krankheitsphase verblieben. Er wies aber auch darauf hin, dass der Wirkstoff keine Heilung verspreche.
Hingegen sieht Prof. Christian Behl von der Universitätsmedizin Mainz vor allem die starken möglichen Nebenwirkungen und die deutlich schlechtere Wirkung bei Frauen weiter als problematisch an. Während bei Männern sich der Krankheitsverlauf um 43 Prozent verlangsamte, waren es bei Frauen nur 12 Prozent, obwohl das Amyloid-Beta vergleichbar abgebaut wurde.
Für wen kommt es in Frage?
Klar machten die Neurologen auch, dass der Einsatz des Präparats eine Einzelfallentscheidung sei. Nach Prof. Stefan Teipel vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) kommen folgende Personen überhaupt infrage:
- sehr frühes Krankheitsstadium
- höchstens 1 Allel für ApoE4 (Vorgabe der EMA)
- körperlich guter Allgemeinzustand (zweiwöchentlich Infusion, viele MRT-Kontrollen)
- idealerweise kein hohes Blutungsrisiko (z.B. aufgrund von Antikoagulantien, schlecht behandelte Hypertonie oder fortgeschrittene Hirngefäßerkrankung)
Teipel schätzt, dass höchstens zehn Prozent der Menschen mit leichter kognitiver Störung überhaupt für die Behandlung geeignet sind. Die DGN und die DGPPN erarbeiten aktuell eine Indikationsempfehlung für die Praxis aus.
Einen weiteren Aspekt gibt die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) seit jeher in der Früherkennung von Alzheimer kritisch zu bedenken: Nämlich anhand welcher Kriterien eine Behandlung im frühen Stadium zu rechtfertigen ist. In der S3-Leitlinie Demenzen hat sie deswegen ein Sondervotum eingelegt, wonach eine Alzheimer Demenz erst vorliegt, wenn die internationalen Diagnosekriterien erfüllt sind. Dagegen könne “die Diagnose einer Alzheimer-Krankheit nicht bereits bei typischer Symptomausprägung und eindeutigem Biomar-ker-Hinweis (Tau- und beta-Amyloid-Pathologie) für das Vorliegen einer Alzheimer-Pathologie gestellt werden – auch nicht im Stadium der leichten kognitiven Störung.“
Allgemeinmedizinerin und Ex-DEGAM-Präsidentin Prof. Erika Baum weist zudem darauf hin, dass bei der Diagnosestellung einer Demenz eine signifikant erhöhte Rate von Suizidversuchen und Depression beobachtet wird.
Quelle: dpa, Mitteilung der EMA 14.11.24, Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Veranstaltung des Science Media Center am 15.11.24