Hausarzt MedizinMehr Medikamente mit Kinderzulassung

In der medizinischen Versorgung von Kindern herrschte lange ein Mangel an klinischen Studien. Je nach Altersstufe ist nur jedes zweite bis dritte Medikament überhaupt für Kinder zugelassen. Dementsprechend besteht ein Off-Label-Use-Problem. Dabei ist die Option „halbes Gewicht = halbe Dosis – wird schon passen“ nicht möglich.

Basis für „kindgerechte Arzneien“ ist eine EU-Verordnung von 2006, berichtete Dr. Dirk Mentzer vom Paul-Ehrlich-Institut und vom Pädiatrie-Ausschuss der EMA. Die Verordnung fordert für alle neuen Medikamente auch eine Prüfung für Kinder, betonte er. Und damit diese Forderung auch umgesetzt wird, wurde eine klare Regel festgelegt:

Kein pädiatrischer Prüfplan – keine Zulassung für Erwachsene

Bei Antrag auf Zulassung oder bei Indikationserweiterung (Medikament unter Patentschutz) muss ein genehmigtes pädiatrisches Prüfkonzept vorliegen, so Mentzer. Dieser pädiatrische Prüfplan wird mit der EMA vereinbart und macht die Untersuchung bei Kindern verpflichtend. Er umfasst zum Beispiel auch, welche ethischen Besonderheiten und Sicherheitsaspekte berücksichtigt und wann die Studien durchgeführt werden sollen. Vor dieser Vereinbarung gibt es keine Zulassung für Erwachsene. Viele Medikamente mit Kinderindikation stecken deshalb schon in der Zulassung, so Mentzer.

Trotzdem verlangt der Weg bis zum Einsatz eines neuen Medikaments Geduld. Die Substanzsuche, die Tests im Reagenzglas, an Tieren und danach in klinischen Studien brauchen Zeit, so Dr. Thorsten Ruppert vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Bis zum Zulassungsantrag dauert es oft 13 Jahre. Unter anderem muss die richtige Darreichungsform ermittelt werden, denn sie beeinflusst zum Beispiel Wirkung, Wirktempo und Verträglichkeit.

Als kindgerecht gelten etwa Kau- und Lutschtabletten, Trinklösungen und Salben. Wobei orale Präparate zwar nicht schlecht, aber auch nicht zu gut schmecken sollten, so Ruppert. Klinische Prüfungen mit Kindern beginnen frühestens nach Abschluss der Phase-I-Studien mit Erwachsenen. In der Regel starten sie nach den Phase-III-Studien. Eltern und Kinder müssen vorher aufgeklärt werden. Die Eltern sollten wissen, dass Studienteilnehmer versichert sind – das ist ein Muss und wird auch überprüft.

Minitabletten auch für Kleinkinder

Im Hinblick auf kindgerechte Darreichungsformen und das Erfordernis der präzisen, niedrigen Dosierung wurden Studien mit Minitabletten (MT) durchgeführt; diese können maximal 2,0 – 2,5 mg Arzneistoff enthalten. Die MiniTab-2-Studie etwa prüfte Schluckbarkeit und Akzeptanz der nur 2 mm messenden Tabletten bei 306 Kindern im Alter von 0,5 bis sechs Jahren. Die Kinder erhielten wirkstofffreie MT mit Filmüberzug, ohne Filmüberzug oder Glukosesirup. Es zeigte sich, dass die MT sogar besser ankamen als der Sirup, so Prof. Jörg Breitkreutz von der Universität Düsseldorf. Dabei waren alle drei Zubereitungen verträglich. Nur zwei Kinder (0,5 – 1 Jahr) verschluckten sich an einer befilmten MT (MiniTab-2); das blieb aber ohne klinische Relevanz, berichtete er.

Forschung ja – aber doch nicht mit meinem Kind?

Eine genügend große Kindergruppe für eine klinische Studie zusammenzubekommen, ist trotzdem oft schwierig. Denn die Untersuchungen sind bei neuen Medikamenten zwar notwendig, so Monika Reif-Wittlich von Juvemus. Aber viele Eltern befürchten, ihr Kind könnte als Versuchskaninchen missbraucht werden und ihnen später Vorwürfe machen. Oder sie haben Angst, es könnte der Kontrollgruppe zugeteilt und dadurch eine wirksame Therapie verzögert werden. Reif-Wittlich empfiehlt, Vorbehalte durch ausführliche Aufklärung und Beratung abzubauen. Für Eltern sind zum Beispiel Informationsbroschüren sehr wichtig, betonte sie. Eine Studienteilnahme biete zudem den Vorteil intensiver Betreuung und kostenfreier Medikation.

Der Mangel an pädiatrischen Medikamentenstudien wird langsam zum Allgemeinwissen und scheint einen Wechsel der Sichtweise zu bewirken: Kinder müssen nicht vor klinischer Forschung geschützt werden, sondern durch klinische Forschung, so Dr. Stefanie Breitenstein, Bayer HealthCare. Denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen; das beeinflusst die Anforderungen an ihre Studien und Medikamente. Bei Neugeborenen etwa sind Leber- und Nierenfunktion noch unausgereift, weshalb viele Mittel nicht oder schlechter verarbeitet werden. Die wechselhafte Darmfunktion mit Diarrhöen wiederum beeinflusst die Resorption oraler Wirkstoffe.

Den hohen Studienbedarf verdeutlichen Zahlen zum Einsatz von nicht für Kinder zugelassenen Medikamenten: In der Neonatologie sind es bis zu 93 Prozent, in der Gastroenterologie rund 50 Prozent und in der Anästhesie werden ca. 33 Prozent der Schmerzmittel off-label eingesetzt, so Breitenstein.

Off-Label-Use ist grundsätzlich erlaubt

Eine Befragung ergab für 17.641 Kinder von 0 – 17 Jahren, dass 40 Prozent schon mindestens einmal Off-Label behandelt worden waren. Da ist das Ergebnis der EU-Kinderverordnung ein Lichtblick: 54 Medikamente für Kinder wurden seither neu zugelassen, 1.556 Anträge laufen noch und 715 wurden bereits positiv bewertet, sagte Dr. Feras Khalil, Universität Düsseldorf (Stichtag: Februar 2014).

Grundsätzlich sei Ärzten aber der Off-Label-Gebrauch erlaubt, erklärte er. Da der Einsatz des Medikaments dann aber seine Zulassung überschreitet – zum Beispiel bei Dosierung, Indikation, Darreichungsform oder Alter des Patienten –, muss der Arzt den Einzelfall prüfen. Zumal bei Off-Label-Verordnungen ein erhöhter Anteil an unerwünschten Wirkungen gefunden wurde. Dem Arzt obliegt bei solchen Medikamenteneinsätzen eine erhöhte Pflicht zur Aufklärung und er braucht die Zustimmung des Patienten. Außerdem, so Khalil, stellen sich Haftungsfragen, etwa bei Komplikationen. Die Produkthaftung des Herstellers sei in solchen Fällen ungewiss.

Quelle: „Sind Arzneimittel kindgerecht?“ Veranstalter: Gemeinsame Veranstaltung von Kindernetzwerk e.V. und Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (vfa) in Frankfurt am Main

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