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Hausarzt MedizinIm Alter individuell therapieren

In den westlichen Industrienationen erreichen immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter – eine Herausforderung bei der medikamentösen Therapie. Eine Optimierung der Pharmakotherapie lässt sich nur in einem Zentrum der Versorgung umsetzen – in der Hausarztpraxis.

In Deutschland werden Frauen im Schnitt 83 Jahre alt, Männer 78 Jahre. 2016 waren 21 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, 2030 werden es bereits 29 Prozent sein.

Mit dem Alter korreliert Multimorbidität: 62 Prozent aller über 65-Jährigen leiden an ­ drei und mehr chronischen Erkrankungen [1], viele darüber hinaus an Begleiterkrankungen, die mitbehandelt werden müssen, um die Behandlung effektiv zu gestalten. Zudem ist die Gefahr von Komplikationen und Folgeerkrankungen neben der alterstypischen Gefahr der Chronifizierung größer.

Unser Ziel ist der Erhalt der Gesundheit und des körperlichen Wohlbefindens, verbunden mit dem Autonomieerhalt des alten Menschen. Die Behandlung von chronisch kranken und multimorbiden Patienten hat einen hohen Anspruch an eine optimale Pharmakotherapie und ist eine Herausforderung für den Arzt und sein Team. Leider kann sich die Konsequenz dieser täglichen Arbeit in der Hausarztpraxis weder in Leitlinien noch in Fallpauschalen widerspiegeln.

Polypharmazie

Ein multimorbider Patient muss häufig eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen (Abb. 1): Im Schnitt nimmt jeder über 60-Jährige 3 rezeptpflichtige Medikamente ein, ab 75 bis 80 Jahren sind es sogar über 8 Präparate – obwohl wir wissen, dass ab 5 Medikamenten keine Vorhersage über Interaktionen möglich ist. Daher verwundert es nicht, dass viele Patienten wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen notfallmäßig sta­tionär eingewiesen werden. 1/3 dieser Betroffenen unterliegen auch einem Medikationsfehler.

Die Polypharmazie – eine Einnahme von mehr als 4 bis 5 Wirkstoffen – ist multifaktoriell. Die Behandlung umfasst neben­ der Therapie von chronischen Erkrankungen auch Akuterkrankungen, aber auch alters­bedingte „Befindlichkeitsstörungen“ wie chronischer Schmerz, Schlafstörungen, ­Inkontinenz und eingeschränkte Mobilität.

Probleme bei Senioren

Bei der Therapie älterer Menschen bestehen verschiedene Probleme, die zu unüberschaubaren Neben- und Wechselwirkungen führen können (Tab. 1). Zum einen sind altersbedingte Stoffwechselstörungen zu beachten, zum Beispiel die Nierenfunktion, die im Alter physiologisch bedingt abnimmt, so dass bei vielen Medikamenten zumindest eine Dosisreduktion beachtet werden muss, wenn der Wirkstoff nicht sogar kontraindiziert ist. Freiverkäufliche Präparate werden uns von den Patienten selten mitgeteilt. Doch auch hier kann es zu Interaktionen kommen.

Leitlinien sind sehr kritisch zu betrachten, da viele Leitlinienempfehlungen auf Studien beruhen, die nicht mit alten Menschen durchgeführt wurden. Darüber hinaus können bei vorliegender Multimorbidität auch nicht alle Leit­linien zeitgleich beachtet werden. Da gilt es, individuell abzuwägen. Je mehr Medikamente ein Mensch einnehmen muss – auch das ist bekannt – desto schlechter ist die Compliance. Die medikamentöse Adhärenz von Patienten mit chronischen Erkrankungen liegt in den Industrieländern bei etwa 50 Prozent.

Schlussfolgerung: Im Rahmen der Arzneimittelsicherheit (AMTS) müssen wir alle Maßnahmen ergreifen, die den Medikationsprozess optimal beeinflussen, mit dem Ziel, Medikationsfehler zu reduzieren und damit wiederum das Risiko für unsere Patienten so gering wie möglich zu halten.

Pharmakotherapie optimieren

Die medikamentöse Therapie im Alter muss individuell sein (Tab. 2). Die Wirkstoffe sollten untereinander abgestimmt werden. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass bei einigen Medikamenten im Alter die Nebenwirkungen im Vergleich zum Nutzen überwiegen, sogenannte potenziell inadäquate Medikamente.

Der Patient ist auf jeden Fall in die Diskussion seiner Therapie im Rahmen der partizipativen Entscheidungsfindung miteinzubeziehen, allein schon um seine Adhärenz zu fördern. Was hilft es uns, wenn für alle bestehenden Erkrankungen zwar Medikamente verordnet werden, der Patient aber die Tabletten nicht einnimmt. Das bedeutet für uns, dass ein alter Mensch eben nicht immer nach Leitlinie, egal welcher Herkunft, therapiert werden kann.

Dies lässt sich nur in einem Zentrum­ der Versorgung umzusetzen – in der Hausarztpraxis. Wir Ärzte sind gerade in diesem Punkt auf ­gute Kooperationen mit dem Umfeld des Pa­tienten angewiesen.

Zur Optimierung der Therapie gehört auch die regelmäßige Kon­trolle der Medikation. Ein aktueller ­Medikamentenplan setzt nicht nur die Überprüfung der eigenen Medikation voraus, sondern auch die Überprüfung der fachärztlichen Therapieempfehlungen, Anamneseerhebung freiverkäuflicher Medikamente und nicht zu vergessen, eine Patientenbeobachtung auf Interaktion und regelmäßige Einnahme. Ein sehr hoher Anspruch, den wir Ärzte allein sicher nicht erfüllen können. Hier können uns sehr gut unsere VERAHs, aber auch kooperierende Pflegedienste und betreuenden Mitarbeiter/Angehörige unterstützen.

Entscheidungshilfen

Hilfe und Sicherheit geben uns nachfolgende Entscheidungshilfen:

MAI-Liste: Strukturierte Überprüfung der Medikation

Die Notwendigkeit der Medikamenteneinnahme unserer Patienten sollten kritisch hinterfragt werden. Hierzu kann bei strukturierter Evaluation der Medication Appropriateness Index (MAI) herangezogen werden [3, 4, 5]:

  • Gibt es eine klare Indikation?
  • Ist die Wirksamkeit gegeben?
  • Überwiegt der Nutzen gegenüber dem Risiko?
  • Ist die Dosierung korrekt?
  • Sind die Einnahmevorschriften korrekt?
  • Interagiert das Medikament mit ­anderen?
  • Interagiert das Medikament mit vorhanden Erkrankungen?
  • Gibt es für das Medikament spezielle Anwendungsvorschriften?
  • Gibt es Doppelverschreibungen?
  • Ist die Behandlungsdauer adäquat?
  • Gibt es kostengünstigere Alternativen?

Dieses checklistengestützte Gespräch sowie die Überprüfung der eingenommenen Medikamente, unterstützt in der Durchführung durch unsere VE­RAHs, kann das Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen bei bestehender Multimedikation minimieren.

PRISCUS-Liste: Medikamente mit hohem Risiko für UAW und sichere Alternativen

Die PRISCUS-Liste und die FORTA-Klassifikation unterscheiden sich von der MAI-Liste durch medikamentenspezifische Entscheidungen.

Die leitlinienorientierte PRISCUS-Liste enthält Arzneistoffe, die potenziell inadäquat für ältere Menschen sein können und damit dem alten Menschen nicht gegeben werden sollen. Positiv ist hier, dass zu den potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM) Alternativen aufgezeigt werden. Schwachstelle der PRISCUS-Liste ist, dass sie auf einer Bewertung ohne Evidenz beruht und auch nicht vollständig ist. Damit ist die PRISCUS-Liste als eine Entscheidungshilfe im Einzelfall gedacht [8]. Sie ist vergleichbar mit der Kategorie D der FORTA-Liste.

FORTA: Adäquate Medikation des alten Menschen

Die FORTA-Liste (Fit fOR The Aged) ist eine diagnoseabhängige und evidenzbasierte Klassifikation von bestimmten Substanzen, vorrangig auf den deutsch-österreichischen Raum bezogen. Sie betrachtet damit alterstypische Erkrankungen und prüft deren Medikation auf Tauglichkeit (Tab. 3) [7].

Die Anwendung der FORTA-Klassifikation ist indikationsabhängig. So kann ein Medikament je nach Indikation verschiedene FORTA-Bewertungen erhalten. Die FORTA-Klassifikation ist eine schnelle Orientierungshilfe, aber auch dieses System ersetzt keine individuelle Therapienetscheidung und lässt Ausnahmen zu.

In der Valforta-Studie konnte gezeigt werden, dass sich nach Anwendung der FORTA-Liste die Qualität der Medikamentenversorgung gegenüber der Kontrollgruppe um das 2,7-Fache verbessert hat [6]. Daher gibt es die FORTA-Klassifikation neuerdings auch als App.

Schlussfolgerung

Die genannten Listen unterstützen uns in der Entscheidung über die medikamentöse Therapie chronisch kranker und multimorbider Patienten. Mit ihrer Anwendung können wir unerwünschte Arzneimittelwirkungen reduzieren und potenziell inadäquate Medikamente minimieren. Trotzdem können sie uns im Einzelfall nicht die Entscheidung nicht abnehmen.

Quartäre Prävention – nur so viele ­Medikamente wie nötig, hat einen hohen Anspruch in der medikamentösen Therapie. Wichtig ist, dass die Erkrankungen multimorbider Patienten unter Bezugnahme des sozialen Umfelds, seines Allgemeinzustands und im Rahmen einer partizipativen Entscheidungsfindung therapiert werden. Interaktionen werden wir nicht vermeiden können, aber Medikationsfehler können wir minimieren.

Und wenn auch wir als Ärzte, unterstützt durch unsere VERAHs, in der Verantwortung stehen, ist es Aufgabe eines Jeden, der mit Pflege zu tun hat, darauf zu achten, dass dies nach Möglichkeit nicht passiert.

Mögliche Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.

Literatur

  • 1 Analyse von Krankenkassendaten – Deutsches Ärzteblatt Jg114 Heft 20 , Mai 2017
  • 2 Barmer GEK Arzneimittelreport 2013
  • 3 Leitliniengruppe Hessen Hausärztliche Pharmakotherapie. Hausärztliche Leitlinie Multimedikation ;1.12.2016
  • 4 Der MedicationAppropriatenessIndex (MAI) als Zielgröße für komplexe Interventionen:Erste Erfahrungen aus der PRIMUM-Pilotstudie.
  • 5 Muth C1, Harder S2, RochonJ3, Fullerton B1, Beyer M1, van den AkkerM4, Gerlach FM1; 1 Institut für Allgemeinmedizin, Goethe Universität Frankfurt; 2Institut für klinische Pharmakologie, Goethe Universität Frankfurt; 3Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Universität Heidelberg; 4 Netherlands School of Primary Care Research –CaRe, Department of General Practice, Maastricht University
  • 6 Arzneimittelsicherheit – App unterstützt Pharmakotherapie älterer Menschen Deutsches ärzteblatt Jg 114, Heft 29-30; 14. 07. 2017
  • 7 Die F O R T A – Liste “Fit for The Aged” – Expert Consensus Validation 2015 Farhad Pazan1, Christel Weiß2, Martin Wehling1; 1Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Zentrum für Gerontopharmakologie, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg; 2Abteilung für Medizinische Statistik, Biomathematik und Informationsverarbeitung, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg
  • 8 PRISCUS-Liste potenziell inadäquater Medikation für ältere Menschen S. Holt, S. Schmiedl, P. A. ThürmannLehrstuhl für Klinische Pharmakologie, Private Universität Witten/Herdecke gGmbH, Witten, GermanyPhilipp Klee-Institut für Klinische Pharmakologie, HELIOS Klinikum Wuppertal, Wuppertal, Germany, Stand 01.02.2011
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