GeriatrieNehmen Sie Schmerzen bei Senioren besonders ernst

Die Behandlung chronischer Schmerzen ist bei älteren Menschen eine besondere Herausforderung. Folgende Tipps helfen bei der Diagnostik und Therapie.

Er geht noch: Bei älteren Menschen sind Schmerzen nicht immer so leicht zu erkennen

In den vergangenen Jahrzehnten setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine suffiziente Akutschmerztherapie im Rahmen von Erkrankungen, Operationen oder auch bei der Rettungsmedizin nicht nur subjektives Leiden reduziert, sondern dass die Schmerzreduktion und die damit verbundene Stressreduktion auch Komplikationen im weiteren Erkrankungsverlauf reduzieren oder vermeiden können.

Während die Erkenntnisse und Methoden der Akutschmerztherapie relativ schnell auch zu praktischen Konsequenzen im medizinischen Alltag geführt haben, ist die Versorgungssituation bei Patienten mit chronischen Schmerzen noch immer problematisch.

Nicht wenige Patienten mit chronischen Schmerzen werden ohne ausreichende Schmerzdiagnostik unter der Annahme behandelt, dass chronischer Schmerz ein lediglich zeitlich verlängerter Akutschmerz ist. Hierbei werden wesentliche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte außer Acht gelassen.

Chronische Schmerzen im Alter

Mit zunehmendem Alter treten degenerative Erkrankungen immer häufiger auf. Sie gehen nicht selten mit Schmerzphänomenen einher, seien es nozizeptive Schmerzen des Bewegungssystems, neuropathische Schmerzen bei den verschiedensten neurologischen Erkrankungen oder schmerzverstärkend wirkende Komorbiditäten wie Depression, Angst etc.

Zudem können demente Patienten ihre Schmerzen oftmals nicht mehr ausreichend kommunizieren. Deshalb hat es sich bei älteren Patienten bewährt, eine begleitende kognitive und affektive Diagnostik durchzuführen. Wegen der hohen Komorbidität von Depression und Schmerzsymptomatik ist eine affektive Beurteilung bedeutsam mit entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich der Behandlungsstrategie.

Aufgrund von Krieg, Flucht und Vertreibung ist bei älteren Patienten immer auch an eine posttraumatische Belastungsstörung zu denken. Sie birgt als Spätfolge die Gefahr, in eine Erkrankung aus dem Kreis der somatoformen Störungen zu münden, die durch eine vielfältige Schmerzsymptomatik gekennzeichnet sein kann.

Testinstrumente

Mithilfe des geriatrischen Assessments können wir Fähigkeitsstörungen erkennen, aber auch vorhandene Ressourcen objektivieren. Denn gerade bei alten und hochbetagten Menschen ist das frühzeitige Erkennen von Defiziten sehr bedeutsam, um Gefahren wie Sturzereignisse abwenden zu können und um das Potenzial zur Verbesserung zu erschließen und zu nutzen.

Beim geriatrischen, vulnerablen, in der Regel sogar pflegefallgefährdeten Patienten ist ein geriatrisches Basisassessment auch eine Voraussetzung für eine adäquate Pharmakotherapie.

Mini-Mental-Status-Test

Der Mini-Mental-Status-Test (MMS) dient der Einschätzung und Bewertung der kognitiven Fähigkeiten des Patienten.

Durchführung: Dem Patienten werden der Reihenfolge nach einzelne Aufgaben zu verschiedenen Bereichen (Orientierung, Aufnahmefähigkeit/Merkfähigkeit, Sprache, Aufmerksamkeit und Rechenfähigkeit, Gedächtnis/Erinnerungsvermögen, Ausführung von dreiteiligen Aufforderungen, Lesen und Ausführen, Schreiben, Kopieren/visuelle konstruktive Fähigkeiten) gestellt. Die jeweilige Punktzahl wird nach entsprechender Bewertung notiert und am Ende zusammengezählt. Der Zeitbedarf liegt im geriatrischen Bereich zwischen 10 bis 20 Minuten.

Uhrentest

Der Uhrentest informiert über wichtige kognitive Aspekte der Demenz (Gedächtnis, exekutive Funktion sowie optisch-räumliche Wahrnehmung).

Durchführung: Der Patient wird gebeten, in einen vorgezeichneten Kreis zuerst die fehlenden Zahlen/Ziffern einer Uhr von 1 bis 12 einzutragen und anschließend die Uhrzeiger für die Uhrzeit 11:10 Uhr einzuzeichnen. Während der Durchführung macht sich der Therapeut Notizen zur Ausführung der gestellten Aufgabe.

Geriatrische Depressionsskala

Um das Vorliegen einer Pseudodemenz (kognitive Beeinträchtigung im Rahmen einer Depression) zu beurteilen, ist es notwendig, den Blick auf depressive Symptome zu richten. Hier hat sich die Geriatrische Depressionsskala (GDS) bewährt.

Schmerzdiagnostik

Die in der Schmerzdiagnostik evaluierten Fragebögen sind für alte Menschen oftmals eine Herausforderung, nicht nur aufgrund von Störungen des Seh- und Schreibvermögens, sondern auch wegen möglicher kognitiver Einschränkungen. Bei alten Menschen tritt das strukturierte Schmerzinterview in unseren Fokus, bei dementen Patienten die standardisierte Beobachtung (z.B. BESD) durch geschulte Pflegekräfte.

Neben der Schmerzstärke und Lokalisation der Schmerzen liefert die beschriebene Schmerzqualität (sensorisch-diskriminativ und affektiv-motivational) Hinweise für die Differenzierung von nozizeptiven, neuropathischen oder dysfunktionalen Schmerzen.

Bestehen keine oder nur leichte kognitive Defizite (MMS > 20 Punkte) kann die numerische Ratingskala (NRS) angewendet werden (Abb. 1). Bei deutlicheren kognitiven Defiziten (MMS 14 – 20 Punkte) sollte auf die verbale Ratingskala zurückgegriffen werden (Abb. 2).

Bei höhergradigen kognitiven Einschränkungen (MMS < 10 – 14 Punkte) ist der Einsatz des BESD-Fragebogens zur Beurteilung von Schmerzen bei Demenz hilfreich. Hierbei wird eine Fremdeinschätzung während einer Mobilitätssituation wie Betten, Lagern oder Waschen, in der Regel durch das Pflegepersonal, zu fünf beobachtbaren Reaktionen/ Gefühlsäußerungen vorgenommen: Atmung, Gesichtsausdruck, negative Lautäußerungen, Körpersprache, Trostbedürftigkeit/Trostannahme. Im Rahmen der Schmerzdiagnostik besteht die vielfach nur interdisziplinär zu bewältigende Aufgabe, Schmerzphänomene nozizeptiver Art von denen der Neuropathie sowie der funktionellen Schmerzen zu trennen. Dies ist bedeutsam, da die medikamentösen Ansätze für die einzelnen Schmerzdiagnosen deutlich unterschiedlich sind. Für eine praxisorientierte Schmerztherapie kann als Diagnose- und Therapiehilfsmittel der Pain-Router dienen (Abb. 3).

Schmerztherapie

Nichtopioide

Als Nichtopioide sind Paracetamol, Metamizol und nichtsteriodale Antirheumatika etabliert.

Paracetamol ist ein relativ schwach wirksames Analgetikum, bei dem die Tagesmaximaldosis keinesfalls überschritten werden soll. Bei vorbestehenden Leberschädigungen ist die Gabe kontraindiziert.

Metamizol ist ein in Deutschland weithin etabliertes, stark wirksames Analgetikum. Die sehr selten (1 : 500.000) auftretende Agranulozytose sollte allerdings nicht übersehen werden (klinisch hohes Fieber, schwere Entzündungen im Bereich des Rachenrings, im Laborbefund Leukopenie).

Nichtsteroidale Antirheumatika haben den Vorteil eines entzündungshemmenden Effekts. Aufgrund der im Alter vorhandenen Nierenfunktionsstörung ist deren Einsatz allerdings bei alten Menschen relativ kontraindiziert und eine Medikation sollte so kurz und so niedrig dosiert wie möglich vorgenommen werden. Gastrointestinale Nebenwirkungen sind häufig.

Opioide

Sind Schmerzen mit Nichtopioiden nicht ausreichend beherrschbar, ist eine Kombination mit Opioiden unabdingbar, wobei gerade bei alten Menschen Hydromorphon, Buprenorphin, Tilidin und Tapentadol Vorteile besitzen, da sie nicht wesentlich über die Niere ausgeschieden werden.

Koanalgetika

Bei neuropathischen Schmerzen sind Antidepressiva und Antikonvulsiva die Medikamente der ersten Wahl, wobei hier kognitive Funktionsstörungen sowie spezielle Dosisempfehlungen bei Niereninsuffizienz zu beachten sind.

Bei peripheren neuropathischen Schmerzen sollten lokale Therapiemaßnahmen bevorzugt werden (Lidocain-Pflaster, Capsaicin), da durch diese Anwendungen zentralnervöse Nebenwirkungen nahezu ausgeschlossen sind.

Bei dysfunktionalen Schmerzen werden medikamentöse Strategien kaum erfolgreich sein. Hier bedarf es einer ausgefeilten psychologischen ggf.sogar psychiatrischen Einschätzung, um erforderlichenfalls psychotherapeutische oder psychosoziale Ansätze zum Tragen zu bringen.

Nichtmedikamentöse Verfahren

Die intensive Anwendung physikalischer Therapiemethoden ist gerade bei alten Menschen von Vorteil, da diese nebenwirkungsarm bis nebenwirkungsfrei sind, z. B. Quarkpackungen bei aktivierter Arthrose und entzündlichen Gelenkerkrankungen, Heublumenpackungen (“Morphin der Naturheilmedizin”) bei Rückenschmerzen. Auch der Einsatz von altbewährten Wickeln sollte unbedingt zu einem multimodalen Therapiekonzept gehören, ist dies doch ein effizientes physikalisches Therapieverfahren. Zu bedauern ist, dass diese Therapiemethode in der Ausbildung von Physiotherapeuten in den Hintergrund getreten ist.

Geriatrische Medizin findet auch angesichts des Todes statt. Eine palliative Behandlung hat Bedeutung als aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung. In diesem Behandlungsansatz hat die Beherrschung von Schmerzen neben anderen belastenden Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität.

Fazit

  • Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl von Patienten mit chronischen Schmerzen.
  • Vor der Einleitung einer Schmerztherapie muss im Rahmen der Schmerzdiagnostik geklärt werden, ob nozizeptive, neuropathische oder dysfunktionale Schmerzen vorliegen.
  • Alte Menschen sollten ein geriatrisches Basisassessment erhalten, um organische, emotionale und kognitive Defizite erkennen zu können. Nichtmedikamentöse Therapieverfahren einschließlich psychosozialer Ansätze sind ein fester Bestandteil einer multimodalen Schmerztherapie.
  • Medikamentöse Therapien müssen den Besonderheiten des alten Menschen hinsichtlich der Pharmakokinetik und -dynamik Rechnung tragen.

Literatur: Freund H. Geriatrisches Assessment und Testverfahren. Grundbegriffe – Anleitungen – Behandlungspfade, Kohlhammer, 2017; Basler HD (Hrsg.) Schmerz im Alter: Grundlagen der Schmerztherapie in der Versorgung älterer Menschen, Lukon-Verlag 1999.

Interessenskonflikte: Während der vergangenen 3 Jahre erhielten die Autoren von folgenden Firmen Zuwendungen für Beratung und Vortragshonorare: Lux EA: Grünenthal, Hexal, Indivior, Kyowa Kirin, Mundipharma, TEVA; Freund H: keine; Juncker U: Grünenthal, Kyowa Kirin, Mundipharma, Pfizer

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