Hausarzt MedizinGeriatrie: “Funktion vor Diagnose”

Die Therapieziele geriatrischer Patienten sollten sich verändern, damit diese so lange wie möglich autonom und selbstständig leben können, zeigte sich Geriater PD Dr. Ulrich Thiem bei einer IQWiG-Tagung überzeugt. "Funktion vor Diagnose" laute das Paradigma.

"Der funktionelle Blickwinkel ersetzt die Defizit-Sicht. Autonomie und Unabhängigkeit stehen als Therapieziele im Vordergrund", sagt PD Dr. Ulrich Thiem, Chefarzt am Geriatrie-Zentrum Haus Berge, Elisabeth-Krankenhaus Essen, bei der IQWiG-Herbsttagung. Er veranschaulicht das am Beispiel der Schlaganfall-Therapie in der Post-Akut-Phase: Ein 85-jähriger Patient hat eine Hemiparese und kann den Arm nicht mehr höher als 90 Grad heben. "Therapieziel ist also, dass er den Arm wieder frei bewegen kann. Das ist richtig, aus geriatrischer Sicht kann das trotzdem falsch sein."

Warum? Weil dieser geriatrische Patient schon vorher einen Rollstuhl brauchte und außerdem multimorbide ist. Er ist an Arthrose, Demenz, Diabetes, KHK und Osteoporose erkrankt und hat sowohl eine Retino- als auch Nephropathie. "Sein Ziel ist es nicht, den Arm wieder frei bewegen zu können. Das kann er, wegen eines Schulter-Arm-Syndroms, seit drei Jahren nicht mehr", so Thiem. Dieser Patient wolle mittels Schmerz-, Physio- und Ergotherapie wieder so fit werden, dass er einige Meter allein zur Toilette gehen kann.

Autonomie wichtigstes Therapieziel

"Es ist nicht so wichtig, wie ausgeprägt das einzelne Defizit ist", ergänzt Thiem. Vielmehr müsse der Arzt einschätzen, wie beeinträchtigt der Patient psychisch, physisch und sozial ist und was er für seine Unabhängigkeit im Alltag brauche. "Das ist entscheidend." Die Funktionssicht erfordere ein geriatrisches Assessment. Durch Fragebögen und Funktionstests ermittelt der Arzt, wie es dem Patienten funktionell geht. Das Assessment schließt Ist-Zustand, Verlauf und Prognose ein. Durch eine funktionsorientierte Therapie sollen Selbstständigkeit und Autonomie wiederhergestellt, verbessert oder erhalten werden. Hier brauche es ein Team aus Ärzten, Physio- und Ergotherapeuten sowie eine aktivierende Pflege.

Für das geriatrische Konzept "Funktion vor Diagnose" gebe es prognostische Evidenz, so Thiem weiter. Er stellte eine Metaanalyse von 22 randomisierten klinischen Studien aus 2011 mit insgesamt 10.315 Patienten vor. Eingeschlossen wurden über 65-Jährige, die ungeplant stationär aufgenommen wurden. Getestet wurde das geriatrische Konzept – geriatrisches Assessment plus Team-Intervention – versus Usual Care.

Das Ergebnis: Die Chancen, zuhause zu leben, sind nach sechs Monaten für die Gruppe mit geriatrischem Konzept um 25 Prozent und bei stationär-geriatrischer Therapie um 31 Prozent erhöht. Nach einem Jahr sind die Chancen noch um 16 und 22 Prozent größer. "Das geriatrische Konzept ist evidenzbasiert. Das Paradigma Funktionalität scheint zur Extrapolation geeignet", folgert Thiem.

Krebs bei geriatrischen Patienten

Bei der Tagung stellte Thiem auch die Ergebnisse der ESOGIA-Studie vor, in die 494 Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom (Stadium IV) eingeschlossen waren. Alle Teilnehmer waren 70 Jahre oder älter. Das Besondere an der Studie: Die Autoren führten einen weiteren, Assessment-basierten Therapiearm ein. Die Studienautoren teilten die Patienten – funktionsorientiert – in fitte und vulnerable Patienten ein.

Die fitten Patienten erhielten die "normale" Chemotherapie nach Standardprotokoll. Die vulnerablen Patienten bekamen eine mildere, ausschließlich Taxan-basierte Chemotherapie oder Best Supportive Care. Es zeigte sich kein signifikanter Unterschied im Überleben zwischen Assessment- und konven-tioneller Gruppe (6,1 versus 6,4 Monate), obwohl ein Teil der Patienten eine weniger intensive oder gar keine Chemotherapie erhielten. Toxizitäten und toxizitätsbedingte Therapieabbrüche waren in dieser Gruppe aber erwartungsgemäß seltener.

SPRINT-Studie aus Geriatrie-Sicht

Extrapolation kann aber auch sinnlos sein, wie Thiem am Beispiel einer Subgruppen-Analyse der SPRINT-Studie bei über 75-Jährigen veranschaulichte. Zur Erinnerung: Die SPRINT-Studie hat Patienten über 50 eingeschlossen, die einen systolischen Blutdruck von mindestens 130 mmHg hatten und deren kardiovaskuläres Risiko erhöht war. Verglichen wurden die systolischen Ziel-Blutdruckwerte unter 120 und unter 140 mmHg. Primäre Endpunkte waren Tod, Herzinfarkt, Koronarsyndrom, Schlaganfall oder Herzinsuffizienz.

Ergebnis der Analyse: In Folge der Blutdrucksenkung auf unter 130/80 mmHg traten nicht mehr unerwünschte Wirkungen wie Hypotension, Synkopen, Elektrolytstörungen, Nierenversagen oder verschlechterte Nierenfunktion auf. "Wenn man sich die Ausschlusskriterien anschaut, weiß man auch warum", ergänzt Thiem. Denn SPRINT hat Patienten mit Diabetes, Schlaganfall in der Vorgeschichte, Demenz, kognitiven Einschränkungen, ungewolltem Gewichtsverlust und auffälligem Orthostase-Test von Anfang an ausgeschlossen. Allesamt typische Erkrankungen und Auffälligkeiten geriatrischer Patienten. "Der geriatrische Patient kommt in SPRINT nicht vor. Hier werden nur fitte Ältere eingeschlossen. Es ist zweifelhaft, ob man hier Evidenz für Ältere extrapolieren kann."

Hingegen scheine das Konzept "Funktion vor Diagnose" – geriatrisches Assessment plus funktionsorientierte Therapie – zur Extrapolation geeignet zu sein. Dennoch brauche es hier weitere Evidenz, resümiert Thiem.

Tipp

Die DEGAM hat 2017 eine neue Leitlinie zum geriatrischen Assessment veröffentlicht: s. Der Hausarzt 13/17 und hausarzt.link/eYMS9

Quelle: IQWiG-Herbst-Symposium 2017

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