Neben dem neu festgelegten Zielkorridor wird in der NVL auch empfohlen, das HbA1c-Ziel im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung mit den Patientinnen und Patienten zu diskutieren. Welche Faktoren sind zu berücksichtigen?
Egidi: Grundsätzlich kann man zwei Zielrichtungen einer medikamentösen Behandlung bei Typ-2-Diabetes unterscheiden: das Verhüten von Spätkomplikationen und das Vermeiden von Symptomen eines Diabetes.
Folglich spricht sich die DEGAM bei Patienten unter 70 Jahren mit entsprechend höherer Lebenserwartung für ein HbA1c-Ziel zwischen 7,0 und 8,0 Prozent aus, während bei älteren Menschen mit geringerer Lebenserwartung die Symptomfreiheit im Vordergrund steht.
Bei diesen älteren Menschen sollten keine anti-diabetischen Medikamente eingesetzt werden, solange das HbA1c unter 8,5 Prozent liegt. Bei über 70-Jährigen wird die Prognose durch eine medikamentöse Senkung des HbA1c unter 8,5 Prozent nicht verbessert. Neben dieser allgemeinen Empfehlung sind aber immer die individuellen Präferenzen zu berücksichtigen.
Früher wurde ein möglichst strenges HbA1c-Ziel damit begründet, dass das Risiko für Spätschäden mit dem HbA1c steigt.
Tatsächlich besteht zwischen dem HbA1c und der Sterblichkeit – der allgemeinen wie der kardiovaskulären – ein sehr enger Zusammenhang. Das gilt sogar bis herab zu HbA1c-Werten von 5 Prozent. Der Umkehrschluss, dass man das HbA1c nur weit genug senken müsse, um die Lebenserwartung von Menschen mit Typ-2-Diabetes zu erhöhen, hat sich aber als falsch erwiesen.
Das haben eine Reihe von Studien wie ACCORD, ADVANCE und VADT gezeigt. In ACCORD etwa lag das HbA1c in der Interventionsgruppe bei 6,4 Prozent, in der Vergleichsgruppe bei 7,5 Prozent. Das absolute Sterberisiko wurde durch die Intervention aber um 1 Prozent erhöht.
Schneiden moderne Antidiabetika wie SGLT2-Hemmer und GLP-1-Analoga hier besser ab?
Eine große Metaanalyse von Palmer et al. aus 2021 hat gezeigt, dass der Nutzen dieser beiden Wirkstoffgruppen hinsichtlich kardiovaskulärer und renaler Endpunkte stark vom Ausgangs-HbA1c und vom kardiovaskulären Risiko abhing, das heißt je höher das Risiko war, desto mehr profitierten die Patienten von der Medikation.
Wie groß sind die Chancen in der Praxis, vor allem bei Patienten mit neu aufgetretenem Typ-2-Diabetes durch vermehrte körperliche Aktivität und Ernährungsumstellung alleine den Zuckerstoffwechsel in den Griff zu bekommen und die Prognose zu verbessern?
Die Zahlen hierzu sind leider wenig ermutigend, vor allem was den Nutzen im Hinblick auf Endpunkte betrifft. So konnten Gewichtsreduktion und körperliches Training in der mit großem Aufwand methodisch korrekt durchgeführten Look-AHEAD-Studie leider keinen signifikanten Nutzen hinsichtlich klinischer Endpunkte erzielen.
Wenn es für die Betroffenen aber wichtig ist, den Einsatz von Medikamenten zu vermeiden, kann dieses Ziel durch Veränderungen des Lebensstils häufig erreicht werden.
Wenn Medikamente nötig werden, ist Metformin für die meisten Patienten auch in der neuen NVL Mittel der ersten Stufe. Was muss man beim Einsatz in der Praxis berücksichtigen?
Im Wesentlichen muss man auf die Nierenfunktion achten und sollte die eGFR mindestens einmal jährlich bestimmten. Unter einer eGFR von 30 ml/min/1,72m² ist Metformin kontraindiziert, zwischen 30 und 45 ist die Tagesdosis auf 1.000 mg begrenzt, zwischen 45 und 59 auf 2.000 mg.
Allerdings ist zu beachten: Eine Niereninsuffizienz limitiert den Einsatz von Sulfonylharnstoffen zum Teil viel stärker. Und relevante Azidosen gibt es unter SGLT-2-Hemmern häufiger als unter Metformin.
Metformin sollte man in einer niedrigen Dosis beginnen, zum Beispiel zweimal täglich 500 mg. Damit lassen sich gastrointestinale Nebenwirkungen wie Durchfall, Blähungen und Bauchschmerzen verringern. Da der größte Teil der Wirkung bereits mit einer Tagesdosis von 1.000 mg erreicht wird, bringen höhere Dosen ohnehin nur wenig zusätzliche HbA1c-Senkung.
Bei welchen Patientinnen und Patienten beginnt man mit anderen Wirkstoffgruppen?
Bei einer eGFR unter 30 bleiben im Wesentlichen nur Insulin oder Sitagliptin. Die DPP-4-Hemmer senken das HbA1c allerdings so schwach, dass es meist doch auf Insulin hinausläuft. Außer einer eGFR < 30 gibt es für Gliptine kaum eine Indikation.
Sie haben zudem keinerlei Nutzen hinsichtlich mikro- oder makrovaskulärer Spätfolgen. Trotzdem macht diese Wirkstoffgruppe immer noch einen beträchtlichen Anteil der Verordnung von Antidiabetika aus!
Welche Rolle spielen die Gliflozine und GLP-1-Agonisten im Therapieschema?
Die Studien zu SGLT2-Hemmern bei Menschen mit Herzinsuffizienz belegen einen Nutzen völlig unabhängig vom HbA1c. Bei Personen mit Diabetes gibt es Evidenz für einen Nutzen nur bei HbA1c über 7 Prozent.
Es ist jetzt zu befürchten, dass immer mehr Patientinnen und Patienten nach Herzinfarkt oder mit nachgewiesener KHK aus kardiologischen Kliniken mit einem SGLT2-Hemmer oder einem GLP-1-Agonisten zurück in die Praxis kommen, obwohl bei Ihnen nur ein paar Mal ein Nüchternblutzucker über 126 mg/100 ml gemessen wurde.
Die Kosten dafür könnten unser Gesundheitssystem bedrohen. DEGAM und AkdÄ sind daher zurückhaltender als andere an der NVL beteiligte Fachgesellschaften und empfehlen bei diesen Patienten die Gabe von Gliflozinen – und hier konkret Empagliflozin, weil es dafür die beste Evidenz gibt – nur dann, wenn mit Metformin alleine das HbA1c-Ziel nicht erreicht wurde.
Und Glibenclamid?
Bei intakter Herz- und Nierenfunktion kann man bei Menschen ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen sehr gut Glibenclamid zu Metformin addieren, wenn das individuelle HbA1c-Ziel verfehlt wird. Zu beachten ist, dass man das HbA1c bei Einsatz potenziell Hypoglykämien begünstigender Substanzen wie Glibenclamid und Insulin nicht unter 7,5 Prozent drücken sollte. Glibenclamid senkt das HbA1c sehr stark, hat aber kaum einen Einfluss auf klinische Endpunkte.
Welche Rolle spielt Insulin in der neuen NVL?
Insulin hat erheblich an Bedeutung verloren. Ein prognostischer Nutzen konnte in UKPDS 33 ohnehin nur für eine Laserkoagulation am Auge beobachtet werden, nicht aber für Erblindung, Dialyse oder Herzinfarkt. Als Monotherapie sollte Insulin bei Typ-2-Diabetes praktisch nicht mehr angewendet werden.
Was wir von der DEGAM aber ausdrücklich empfehlen, ist die Gabe von NPH-Insulin zur Nacht, wenn zum Beispiel Metformin plus Glibenclamid plus Empagliflozin das HbA1c nicht unter 9 Prozent senken können. Man lässt dann Glibenclamid weg und gibt beispielsweise 6 bis 8 Einheiten NPH-Insulin zur Nacht. Das löst kaum Hypoglykämien aus, führt nicht nur Gewichtszunahme und ist kostengünstig.
Was sollte man jenseits von Blutzucker und HbA1c noch beachten?
Die Patienten vom Rauchen abzubringen, ist eine der wichtigsten Maßnahmen, um die kardiovaskuläre Prognose zu verbessern. Eine sehr große Bedeutung hat ferner eine gute Einstellung des Blutdrucks. Einen erhöhten Blutdruck zu senken ist erheblich effektiver als die medikamentöse Senkung der Blutglukose. Allerdings sollte der Blutdruck nicht mehr, wie früher gefordert, tiefer als bei Menschen ohne Diabetes gesenkt werden.
Wann soll man eine Deeskalation der Therapie erwägen, Stichwort Deprescribing?
Darüber sollte man nachdenken, wenn das individuelle HbA1c-Ziel erreicht worden ist. Hat zum Beispiel die Kombination aus Metformin und Glibenclamid das HbA1c auf 7,0 Prozent gesenkt, kann man überlegen, Glibenclamid abzusetzen. Ältere Menschen mit einem HbA1c von 7,0 benötigen in der Regel überhaupt keine Antidiabetika. Diese Patienten kann man gleichsam aus ihrer Diabeteserkrankung entlassen.
Vielen Dank für das Gespräch.