© Der Hausarzt Therapeutische Maßnahmen und Strategien
Dazu raten Kollegen
Die Interviews haben gezeigt, dass die befragten Ärzte auf eine eingehende und kontinuierliche Befassung mit betroffenen Patienten sowie eine möglichst entspannte Gesprächsatmosphäre großen Wert legen [17] .
Ihrer Auffassung nach sind für eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Interaktion eine gelassene, unterstützende und empathische Grundhaltung sowie eine patientenzentrierte Gesprächsführung von herausragender Bedeutung.
Bei der Gewinnung von Informationen sollte der Arzt darauf achten, dem somatoform erkrankten Patienten als Partner auf Augenhöhe zu begegnen, sich also Beschwerden ausführlich anzuhören und ohne Vorbehalte aufzugreifen [13] . Ein Teil der Befragten stellt heraus, frühzeitig persönliche Hintergründe und Lebenslagen von Patienten zu erfassen.
“Mit wem hat man es zu tun? Zeigt der Patient eine hohe Körperaufmerksamkeit oder Hypersensitivität? Das kann für das weitere Management und die therapeutischen Optionen sehr relevant sein.” (w)
Mit der Zurückhaltung im Rahmen der tangentialen Gesprächsführung geht einher, dass keine falschen Erwartungen geweckt, nüchterne Aufklärung geleistet und überzogene Untersuchungen vermieden werden. Dies erfordert ggf. eine frühzeitige Relativierung unangemessener Wünsche und Forderungen [11] .
In Bezug auf ihr Vorgehen machen die interviewten Ärzte deutlich, dass sie darauf achten, psychosoziale Themen zunächst eher beiläufig und indirekt mit Begriffen aus dem Alltagsleben anzureißen [18] . Dies sei ein kritischer Punkt, denn hätten Patienten bereits zu Beginn das Gefühl, in die “psychologische Schublade gepackt” zu werden, könnten sie das Vorurteil entwickeln, mit ihrem Anliegen nicht ernst genommen zu werden. Wichtig sei es deshalb,
“[…] dem Patienten zu helfen, sich selbst besser kennenzulernen und einen offenen Blick für die ganzen Belastungsfaktoren zu haben. Das ist das, was ich auch als psychosomatische Grundversorgung sehen würde, wo wir Hausärzte schon gut helfen können.” (w)
Aus Sicht der Hausärzte kommt es darauf an, regelmäßige, das heißt von Beschwerden und Ängsten unabhängige, zeitlich begrenzte Termine zu vereinbaren. Neben realistischen und möglichst überprüfbaren Gesprächs- und Therapiezielen betont ein Teil der Befragten, dass man sich “nicht zu viel in zu kurzer Zeit vornehmen” dürfe [12] .
“Ich glaube, gerade in der Anfangszeit ist es besonders wichtig, dem Patienten immer wieder zu signalisieren, dass er hier in der Sprechstunde richtig aufgehoben ist. Dazu gehört, ihm Anerkennung für kleine Schritte und Erfolge zu geben, gerade weil es sich oft um sehr feinfühlige Persönlichkeiten handelt.” (w)
In Bezug auf konkrete Maßnahmen zum Management somatoformer Patienten kommt es einigen Befragten zunächst darauf an, im Gespräch kontinuierlich an dem “Bewusstsein der Patienten zu arbeiten, […] dass es Beschwerdebilder ohne klare körperliche Ursache gibt”.
Hierzu stellen sie teilweise Informationsmaterialen zusammen. Beschwerdetagebücher sollen helfen, einzugrenzen und genauer zu bestimmen, unter welchen Alltagsbedingungen Symptome auftreten.
“Dies signalisiert einerseits, dass man sein Gegenüber ernst nimmt, andererseits hilft es tatsächlich, den Ursachen wie zum Beispiel Schmerz etwas genauer auf die Spur zu kommen.” (m)
Neben dem Hinweis auf Entspannungstechniken heben mehrere Ärzte die Bedeutung regelmäßiger körperlicher Betätigung als therapeutisches Instrument hervor. Hierbei gehe es nicht lediglich um eine Verlagerung von Aufmerksamkeitsroutinen, sondern um die Rückgewinnung von subjektiv empfundener Souveränität und Kontrollerleben im Alltag [19] .
“Zentral ist meines Erachtens die Steigerung von Selbstwirksamkeit. Vereinfacht gesagt: Herr oder Herrin über das eigene Leben und nicht Getriebener zu sein.” (m)
Im Zuge der Entwicklung kompakter Online-Therapieangebote durch bestimmte Krankenkassen versuchen einige Hausärzte, somatoforme Patienten, bei denen eine psychosoziale Betreuung nötig erscheint, an solche Angebote heranzuführen [20] .
Der Gedanke ist dabei, dass sich Betroffene regulären Therapien oftmals versperren, aber möglicherweise ein niedrigschwelliges, anonymisiertes Hilfsangebot akzeptieren [21] .
“Ich habe damit gute Erfahrungen gemacht. Online-Therapien sind eine echte Alternative, um bestimmten Patientengruppen zu helfen.” (m)
Die meisten der Befragten meiden medikamentöse Behandlungen bei somatoformen Störungen. Nur in Einzelfällen, in denen psychopharmakologischen Interventionen etwa aufgrund gleichzeitig bestehender Depressionen, Angst-, Zwangs- oder Schlafstörungen bestehen, werden medikamentöse Lösungen erwogen [22] .
Hier versuchen sie vorzugsweise, bei Vorliegen von Schmerzen, Schlafstörung und zugleich einer depressiven Symptomatik unter Umständen mit einem einzigen Medikament zu behandeln. In diesem Kontext bestehen die Befragten allerdings auf eine funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Prof. Dr. med. Michael Jansky, Direktor des ZAG und einer der Studienautoren, zieht eine positive Bilanz der Interviews: “Anhand der Ergebnisse lässt sich klar erkennen, dass Hausärzte eine gute und stabile Arzt-Patient-Beziehung als zentrale Grundlage für eine erfolgreiche Behandlung erachten. Sie demonstrieren dadurch Kompetenz und wichtige Voraussetzungen, um die kommunikativen Herausforderungen zu meistern, die bei der Behandlung von somatoformen Störungen zu erwarten sind.”
Hilfreiche Materialien: Seit 2012 gibt es für den deutschsprachigen Raum eine interdisziplinäre Leitlinie für den Umgang mit somatoformen Störungen ; deren Handlungsempfehlungen eignen sich grundsätzlich auch für den hausärztlichen Bereich: www.hausarzt.link/ic1Nw
Hilfreiche diagnostische Instrumentarien sind die Internationale Diagnosen-Checkliste für ICD-10 “Somatoforme Störung” oder der PHQ-15 (Modul des Gesundheitsfragebogens für Patienten – PHQ-D) zur Erfassung des Schweregrads somatischer Symptome.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.
Literatur:
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