© DEGAM Hausärztliche Diagnostik beim Symptom Müdigkeit (entnommen aus der S3-Leitlinie "Müdigkeit")
Schwerwiegende Erkrankungen sind also eher selten. Bei welchen „Red Flags“ sollten Hausärztinnen und Hausärzte aufhorchen?
Nach unseren Recherchen sind schwere Erkrankungen lediglich bei drei bis fünf Prozent ursächlich für Müdigkeit. Es gibt natürlich die klassischen Red Flags: Gewichtsabnahme, deutlich verschlechterter Allgemeinzustand, Nachtschweiß etc.
Wichtig ist aber auch, nach einem Schlafapnoe-Syndrom zu screenen, um einen abwendbar gefährlichen Verlauf zu verhindern. Dazu finden sich in der Leitlinie einfache und sehr sensitive Screening-Fragen, außerdem enthält die Leitlinie Screening-Fragen zu Depression und Angststörungen. Und auch auf die Post-Exertionelle Malaise (PEM) sollte man eben achten.
Was sind die häufigsten Fehler oder Trugschlüsse, die Hausärztinnen und Hausärzte vermeiden sollten?
Dass sie zu viel Diagnostik machen. Wenn ich Hinweise auf eine bestimmte Erkrankung habe, dann muss ich dem natürlich nachgehen. Aber wenn nicht, dann bringt ein zu viel an Diagnostik eher Nachteile mit sich. Ein Beispiel ist der aktuelle Vitamin-D-Hype. Ich habe bei 80 Prozent meiner Patienten suboptimale Vitamin-D-Werte, da sind sie dann ganz schnell auf der falschen Fährte. Es gibt keine Korrelation zwischen Vitamin-D-Mangel und Müdigkeit.
Ein weiterer Fehler ist, zunächst nur nach organischen Ursachen zu suchen. Man muss sich von Anfang an das Gesamtbild anschauen und auch im Blick haben, dass es häufig Interaktionen zwischen organischen und psychischen Erkrankungen gibt.
Besonders überarbeitet wurde das Kapitel zu ME/CFS. Warum?
Bisher hatten wir dazu nur ein Sonderkapitel. Nun hat aber kürzlich die britische Gesundheitsbehörde NICE (National Institute for Health and Care Excellence) seine Empfehlungen zu ME/CFS aktualisiert, an denen wir uns orientieren konnten. Zusätzlich gab es einen Konsensus europäischer Experten.
Im Ergebnis konnten wir damit unter anderem die Kernempfehlung erarbeiten, bei Verdacht auf ME/CFS besonders auf eine Post-Exertionelle Malaise (PEM) zu achten. Grundsätzlich gilt: PEM bedeutet nicht die Diagnose ME/CFS, aber sie ist ein obligater Bestandteil der Diagnose. Für die Definition ME/CFS gibt es unterschiedliche Diagnosekriterien, in der Hausarztpraxis sind die IOM-Kriterien (siehe Kasten unten) ausreichend.
IOM-Kriterien für ME/CFS (IOM 2015)
Patient hat dauerhaft vorliegend (mind. die Hälfte der Zeit) folgende Symptome:
Eine im Vergleich zur Zeit vor der Erkrankung substanzielle Einschränkung der Fähigkeit zu beruflichen, schulischen, sozialen oder persönlichen Aktivitäten, die länger als 6 Monate besteht und von Fatigue begleitet ist, die tiefgreifend, neu aufgetreten, nicht das Resultat von übermäßiger Anstrengung ist und sich durch Ruhe und Erholung nicht substanziell verbessert,
Verschlechterung der Symptome nach körperlicher und/oder kognitiver Belastung (Post-Exertionelle Malaise: PEM),
Nicht erholsamer Schlaf.
Obligat ist außerdem das Vorliegen mindestens eines der beiden folgenden Symptome:
Kognitive Einschränkungen („brain fog“)
Orthostatische Intoleranz: in aufrechter Position treten Symptome wie Schwindel, Benommenheit, Sehstörungen, Tachykardie, Palpitationen, Schwäche und Blässe auf; dies bessert sich im Liegen.
Man muss aber trotz allem festhalten, dass wir ja bis heute keine guten Therapien haben. Vom IQWiG wird demnächst ein Bericht veröffentlicht, der die Therapieoptionen bei ME/CFS untersucht hat. Auch hier wurde keine gute Evidenz für gute Therapien gefunden. Nur bei Verhaltenstherapien gibt es wohl einen Hinweis auf einen geringen Zusatznutzen, aber nicht langfristig.
Auch für die körperliche Aktivierung, um die es einen großen Streit gibt, und das sogenannte Pacing (darunter wird das Einhalten eines individuell passenden Belastungsniveaus verstanden) ist kein Hinweis auf einen langfristigen Nutzen belegt.
Nach wie vor sind wir hier auf einem völlig schwammigen Grund, darauf weist auch das Sondervotum im Kapitel zu ME/CFS hin. Das müssen wir auch zugeben, und umso wichtiger ist es, dass der Hausarzt die Betroffenen begleitet.
Hat auch die zunehmende Zahl von Menschen mit Long/Post-Covid eine Rolle gespielt?
Das hat schon eine gewisse Rolle gespielt. Es gibt in der Leitlinie zu Müdigkeit keine expliziten Empfehlungen zu Long-/Post-Covid, wir verweisen aber auf die S1-Leitlinie zu Long-/Post-Covid (www.hausarzt.link/RWUo8 ).
Umgekehrt wird in der Long-/Post-Covid-Leitlinie auch auf die Leitlinie Müdigkeit hingewiesen. Beide Leitlinien sind also für beide Patientengruppen gut anwendbar, es gibt hier große Überschneidungen.
Quelle:
[1] Stadje, R., Donner-Banzhoff, H.; Müdigkeit als Symptom in der Primärversorgung: Eine systematische Übersichtsarbeit; Dissertation Philipps-Universität Marburg 2015; DOI 10.17192/z2015.0154