Experten InterviewUlcus cruris venosum ist keine Blickdiagnose!

Geschwüre am Unterschenkel gehen in etwa 70 Prozent auf eine chronische venöse Insuffizienz (CVI) zurück. Trotzdem sollte die Diagnose gesichert werden, wenn möglich durch eine Duplexsonografie. Eine weiterführende Abklärung muss spätestens dann erfolgen, wenn die offene Stelle nach sechs bis zwölf Wochen trotz angemessener Therapie nicht abheilt, erläutert Prof. Dr. Joachim Dissemond, Essen, im Gespräch mit unserem Autor Dr. med. Ulrich Scharmer.

Ein Patient kommt erstmalig mit einem Unterschenkelgeschwür in die hausärztliche Praxis. Was sind die ersten Schritte?

Dissemond: Vorab: Ulcus cruris ist keine Diagnose, sondern ein Symptom. Damit ist noch nichts über die Pathophysiologie bzw. die Ätiologie gesagt. Da etwa zwei von drei Patienten mit einem chronischen Unterschenkelgeschwür eine CVI haben, wird Ulcus cruris oft mit Ulcus cruris venosum gleichgesetzt, ohne dass eine genauere Diagnostik erfolgt. Man darf die Patienten aber nicht auf das Symptom “Loch im Bein” reduzieren, sondern muss die Erkrankung genauer abklären.

Welche Schritte umfasst die Diagnostik?

Wenn man vermutet, dass einem Ulkus am Unterschenkel eine CVI zugrunde liegt, ist die Ultraschalluntersuchung der Goldstandard. Im Einzelfall in der Hand von Geübten kann eine Doppler-Untersuchung ausreichen, aber optimal ist die Duplexsonografie. Da diese in Deutschland nicht flächendeckend bzw. oft erst nach Wartezeit verfügbar ist, werden viele Patienten auf Verdacht hin behandelt, ohne dass eine CVI bestätigt ist. Der Blick auf ein Ulkus kann aber eine Duplexsonografie nicht ersetzen.

Meistens kann mit der Behandlung nicht gewartet werden, bis der Ultraschall vorliegt. Was raten Sie?

Man kann und sollte durchaus sofort symptomatisch behandeln. Problematisch wird es nur, wenn die Patienten über Wochen, Monate oder Jahre symptomatisch im Sinne einer CVI behandelt werden, ohne dass die Diagnose bestätigt wird.

Was sind die wichtigsten Differenzialdiagnosen zum Ulkus durch eine CVI?

Zu denken ist neben der CVI an eine arterielle Ursache. Ulzera auf dem Boden einer fortgeschrittenen PAVK sind aber eher am Fuß bzw. an den Zehen zu erwarten als am Unterschenkel, obwohl gelegentlich – vorwiegend an der Außenseite des Unterschenkels – auch ein Ulcus cruris arteriosum vorkommt. Ein Ulcus cruris venosum beginnt bei 90 Prozent der Betroffenen oberhalb oder hinter dem Innenknöchel.

Wie oft liegt ein Ulcus cruris mixtum vor?

Dieser Begriff ist unglücklich gewählt. Er soll ausdrücken, dass bei einem Patienten zusätzlich zu einer CVI eine PAVK vorliegt. Tatsächlich ist die CVI bei den meisten Patienten mit Wunden an den Unterschenkeln führend. Dennoch sollte die PAVK natürlich bei allen Patienten zumindest über die Messung der arteriellen Verschlussdrücke (ABI) und das Tasten der Fußpulse diagnostiziert werden.

Welche weiteren Differenzialdiagnosen sind zu klären?

Sehr wichtig ist der Ausschluss einer Neoplasie, etwa eines Plattenepithelkarzinoms. Diese Tumoren sind zwar am Unterschenkel eher selten, können aber durchaus mit einer Ulzeration einhergehen. Außerdem kann auf einem Ulcus cruris venosum nach vielen Jahren auch einmal ein Plattenepithelkarzinom entstehen.

Weitere wichtige Differenzialdiagnosen sind Vaskulitiden oder andere inflamma-torische Krankheitsbilder. Deren Klinik unterscheidet sich deutlich von einem Ulcus cruris venosum. Wenn ein Ulkus einen lividen Randsaum hat, sehr schmerzhaft ist, rasch größer wird, die Lokalisation ungewöhnlich ist – etwa an der Wade oder der Schienbeinkante – bzw. multiple Ulzera vorliegen, sollte man sofort an Spezialisten überweisen.

Was ist der erste Schritt, wenn begründeter Verdacht auf eine CVI als Ursache des Ulkus besteht bzw. diese bestätigt ist?

Neben der Wundtherapie, ist die wichtigste konservative Behandlungsmaßnahme die Kompressionstherapie. In Deutschland erhalten aber weniger als die Hälfte aller Patienten mit CVI-bedingtem Ulcus cruris ein Rezept für eine Kompressionstherapie. Erfolgt eine Verordnung, wird die Kompression leider oft falsch oder gar nicht angewendet.

Wie versorgt man den Ulkusgrund vor dem Anlegen einer Kompression?

Die Auswahl von Wundauflagen ist unüberschaubar groß. Generell gilt: Trockene Wunden müssen befeuchtet werden, z.B. durch ein Hydrogel, für exsudative Wunden eignen sich Superabsorber, die größere Mengen Sekret aufnehmen können. Sehr häufig werden Wundauflagen aus Schäumen verordnet. Sie lassen sich atraumatisch entfernen und können auf nicht infizierten Wunden bis zu einer Woche verbleiben. Im Zweifelsfall kann man sich bei der Auswahl der geeigneten Wundauflage mit zertifizierten Pflegeexperten oder Wundzentrum* abstimmen.

Womit säubert man die Wunde, wann sind Antiseptika indiziert?

Man kann die Wunde mechanisch säubern oder die Reinigung z.B. mit Wundauflagen unterstützen, die Hydrofasern oder Alginate enthalten. Antiseptika kommen nur für infizierte oder infektionsgefährdete Wunden infrage, in der Regel für 10 bis 14 Tage.

Welche Wirkstoffe sind geeignet?

In einer Empfehlung von 2019 wird Polihexanid (PHMB) für chronische Wunden als Antiseptikum der ersten Wahl genannt, gefolgt von Octenidin. Auch silberhaltiges Verbandmaterial ist grundsätzlich geeignet. PVP-Iod sollte hier u.a. wegen seiner zytotoxischeren Wirkung nicht angewendet werden – hat aber eine gute Empfehlung für akute Wunden.

Wie beginnt man die Kompressionstherapie bei akutem Ulkus?

Man unterscheidet die Entstauungs- und die anschließende Erhaltungsphase. Entstauungsphase bedeutet, dass beim akuten Ulkus zuerst das Ödem zurückgedrängt werden muss. Da sich in dieser Zeit der Umfang des Beins kontinuierlich verringert, muss mit Verbänden gearbeitet werden. Erst wenn das Ödem abgeklungen ist und die Erhaltungsphase beginnt, kann ein Kompressionsstrumpf verordnet werden.

Welche Kompressionssysteme sind geeignet?

In der Erhaltungsphase arbeitet man am besten mit Ulkus-Strumpfsystemen, die aus zwei Strümpfen bestehen und in der Anwendung komfortabler sind. Eine neue Alternative sind medizinisch adaptive Kompressionssysteme (MAK), die in der Entstauung und Erhaltung eingesetzt werden können. Sie ähneln einem aufgeschnittenen Strumpf und haben Klettverschlüsse, über die man den Umfang gut regulieren kann. Da sie von ausreichend mobilen Patienten selbst angelegt werden können, fördern sie die Autonomie und die Adhärenz.

Sie sagten, dass PAVK eine häufige Begleiterkrankung bei CVI ist. Wann verbietet sich bei PAVK eine Kompressionstherapie?

Eine PAVK lässt sich bei den meisten älteren Menschen feststellen. Sie ist per se keine Kontraindikation für eine Kompressionstherapie, außer bei kritischer Ischämie. Ein Stadium IIa nach Fontaine beispielsweise verbietet eine Kompression nicht. Für Sonderfälle gibt es heute Lite-Kompressionssysteme, die statt der üblichen 40 mmHg einen Druck von nur 20 mmHg ausüben. Das reicht meistens, um das Ödem zurückzudrängen. Im Zweifelsfall sollte man Gefäßspezialisten hinzuziehen. •

Vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. med. Joachim Dissemond ist Facharzt für Dermatologie und Venerologie. Er arbeitet als Oberarzt an der Klinik für Dermatologie der Universitätsklinik Essen.

*Initiative Chronische Wunden e.V. (ICW), www.icwunden.de

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