“Am Tag des Mauerfalls hatte ich in Berlin, im Stadtteil Prenzlauer Berg, als Notärztin Nachtdienst. Es gab weniger Einsätze als sonst. Wir fuhren mit dem Einsatzfahrzeug mehrfach an der Mauer vorbei und ich sah dort die Menschentrauben. Pflichtbewusst machte ich den Dienst jedoch bis morgens um 6 Uhr zu Ende und fuhr dann nach Hause. Ich hatte danach ja einen Tag frei.
Zu Hause – ich wohnte damals im Stadtteil Lichtenberg – erwartete mich bereits mein aufgeregter zehnjähriger Sohn. Er meinte, er könne nicht zur Schule gehen, der Unterricht würde aber sowieso ausfallen. Ich wollte trotz der Aufregung erst einkaufen gehen, ließ mich schließlich aber erweichen. Also fuhr ich mit meinem kleinen Sohn los, um in Richtung Spandau meine Freundin zu besuchen. Sie war vor ein paar Jahren offiziell in den Westen ausgereist. Ein Jahr später waren ihr ihre Eltern nach Westberlin gefolgt, und ich hatte gemeinsam mit meinen beiden älteren Söhnen den gesamten Umzug organisiert.
Post ging über den Westen
Wir waren immer Freunde geblieben – per Telefon und per Post. Auch fuhr ich auf dem Rückweg von einer Familienfeier in Luxemburg einmal illegal in Spandau vorbei und stattete ihnen für einige Stunden einen Besuch ab. Dazu unterbrach ich die Durchreise mit dem Interzonenzug in Westberlin und stieg am Bahnhof Zoo wieder in einen späteren Interzonenzug ein. Meine Freundin war auch mein Briefkasten für interessante Postsendungen meiner ausländischen Verwandten. Die Briefe holten dort befreundete Rentner für mich ab, da sonst meine Post kontrolliert worden wäre. Ich hatte also einen persönlichen Kurierdienst.
Praxisgründung nach dem Mauerfall
Die Familie meiner Freundin hatte schon auf mich gewartet, als wir nach dem Mauerfall mit unserem Trabi ankamen. Es war ein Freudenfest, dieses Mal legal zu Besuch kommen zu können. Sie waren alle begeistert, dass sie jetzt wieder meine Patienten werden konnten – schließlich war ich ja Ärztin.
Die Umstellung der Tätigkeit verlief aber sehr aufregend: Ich arbeitete in Ostberlin als Betriebsärztin, auch mit allgemeinärztlicher Tätigkeit. Nach der Wende hatte ich die Wahl zwischen der Arbeitslosigkeit oder einer Praxisübernahme. So wählte ich Letzteres. Ich habe die Praxis bis heute geführt, erst zum Jahresende übergebe ich diese an eine Nachfolgerin, da ich schon 81 Jahre alt bin. Die Aufgabe meiner Praxis fällt mir schwer, da ich manche Familien schon in dritter Generation betreue – aber das Alter trifft jeden. Als Betriebsärztin möchte ich gern weiter arbeiten.”