MeinungsäußerungLeserbrief HA 04/2022

In dieser Ausgabe äußert sich ein Leser zum Expertengespräch mit Dr. Günther Egidi ("Neue NVL: Breiterer Zielkorridor für das HbA1c") zur neuen NVL Typ-2-Diabetes.

“Individuelle Ziele bei Diabetes in Fokus rücken”

Betreff: “Neue NVL: Breiterer Zielkorridor für das HbA1c”, HA 20/21 vom 15.12.21, S. 60

Der breitere HbA1C-Zielkorridor in den neuen NVLs ist sinnvoll und unbedingt zu begrüßen (der engere HbA1C-Korridor der Vergangenheit für alle Patienten war und ist durch Studien nicht wirklich gestützt). Und es ist auch vollkommen richtig, dass bei der Zielrichtung der Diabetesbehandlung zum einen die Verhinderung von (Spät-)Komplikationen und Folgeerkrankungen und zum anderen von Symptomen durch zu hohe (oder auch zu niedrige) Glukosewerte unterschieden wird.

Nun aber pauschal bei allen Patienten über 70 Jahren eine (medikamentöse) Therapieintensivierung erst ab einem HbA1C-Wert von unter 8,5 % zu fordern (so zumindest kann seine Aussage verstanden werden), greift meines Erachtens aber deutlich zu kurz und führt unter Umständen zu einem therapeutischen Nihilismus.

Auch ist mir neu, dass die DEGAM dies in den NVLs so strikt fordern würde. Außerdem kenne ich viele Patienten mit 70 Jahren, die noch sehr fit sind und bei denen ich unbedingt einen HbA1C-Wert unter 8,5% anstreben würde. Der entscheidende Satz – im Interview und in den NVLs – ist meines Erachtens nämlich dann der folgende: „Neben dieser allgemeinen Empfehlung sind aber immer die individuellen Präferenzen zu berücksichtigen.“

Das heißt (aus meiner Sicht) auch, dass sowohl für die strengen HbA1C-Zielwerte – mit den dann oft folgenden teureren Medikamenten – entsprechende (gute) Gründe vorliegen (und dokumentiert sein) müssen, aber auch bei Patienten, bei denen Arzt und Patient nicht so strenge HbA1C-Zielwerte anstreben, dies entsprechend gut begründet sein muss. Diese individuelle Entscheidung sollte mehr in den Vordergrund gerückt werden.

Auch ist meine Erfahrung, dass auch bei vielen der älteren Patienten (mit einer absoluten Altersangabe wäre ich insgesamt vorsichtig) auch den nicht so strengen HbA1C-Zielwert selten ganz ohne (medikamentöse) Unterstützung erreichen. Und selten sind Patienten und Patientinnen mit einem HbA1C über 8,5% wirklich symptomfrei – wenn man genau nachfragt…

Problematisch finde ich auch Dr. Egidis Aussage zu vermehrter körperlicher Aktivität und Ernährungsumstellung: es stimmt, dass die Studienlage und auch die langfristigen Ergebnisse bei den Patienten und Patientinnen oft nicht sehr ermutigend sind und oft eben nicht alleine zur Zielwerterreichung führen, wenn der Diabetes mellitus schon länger andauert.

Bei Erstmanifestation und rechtzeitiger Diagnosestellung führt eine Ernährungsumstellung und Optimierung der körperlichen Aktivität aber doch oft erstaunlichen und oft auch lang anhaltenden Erfolgen. Da – zumindest bei den Patienten, die wir betreuen – die Glukose aber ausschließlich oral aufgenommen wird, ist eine Ernährungsberatung und entsprechende Schulung eine unabdingbare Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Diabetestherapie.

Selbstverständlich darf dies nicht dazu führen, dass bei den Patienten und Patientinnen Schuldgefühle ausgelöst werden, wenn sie damit die (individuellen) Zielwerte nicht erreichen und selbstverständlich kann sich die diesbezügliche Intervention bei 90-Jährigen auch sehr zurückhalten, aber im Interview entsteht aus meiner Sicht der Eindruck, dass eine Ernährungsumstellung und Anpassung der körperlichen Aktivität nur dann angewendet werden sollte, „wenn es für die Betroffenen wichtig ist, den Einsatz von Medikamenten zu vermeiden.“

Gerade auch bei der zunehmenden Zahl jüngerer Menschen, die einen Diabetes mellitus Typ 2 entwickeln, ist eine Ernährungs- und Bewegungsoptimierung unbedingte Voraussetzung für eine langfristig erfolgreiche Therapie.

Und zu guter Letzt: die Formulierung, dass man Patienten „gleichsam aus ihrer Diabeteserkrankung entlassen kann“, halte ich doch für etwas problematisch. Natürlich sollte man ältere Patienten mit einem HbA1C von 7,0% nicht (über)therapieren, ihnen aber zu sagen, dass sie sich um den Diabetes nicht mehr kümmern müssen, da sie ja keinen mehr hätten, führt doch eher dazu, dass die Patienten dann dekompensieren können und dann im Verlauf (wieder) symptomatisch werden mit einem HbA1C-Wert von nahe oder über 10%.

Gelegentliche Kontrollen (in der Regel halbjährliche bis jährliche) des HbA1C-Wertes mit dem Hinweis, dass der Diabetes aktuell ohne medikamentöse Therapie gut therapiert ist, ist meines Erachtens der bessere Weg und dient keine falschen Vergrößerung des Diabetikeranteils in der Praxis.

Dr. Martin Veitenhansl, Facharzt f. Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie, Lilienthal

Antwort des Autors:

Sie sprechen von therapeutischem Nihilismus, der einsetze, wenn bei über 70-jährigen Menschen mit Diabetes eine Therapie-Intensivierung erst ab einem HbA1c unter 8,5% erfolge. Studien zeigen aber: Bei über 70-Jährigen schadet ein HbA1c unter 8,5% hinsichtlich der gesundheitlichen Prognose nicht (Tancredi et al. Excess mortality among persons with type 2 diabetes. N Engl J Med 2015;373:1720-32). Wenn Sie über individuelle Erfahrung hinausgehende Belege beisteuern können – herzlich gerne, wir sind gespannt.

Sie kritisieren meine Aussagen zu körperlicher Aktivität und Ernährungsumstellung. Diese Aussagen beruhen auf der einzigen randomisierten, kontrollierten Studie zum Thema (The Look AHEAD research group. DOI: 10.1056/NEJMoa1212914). Bedauerlicherweise ist mit Hilfe von Bewegung und Ernährungsumstellung eine Prognoseverbesserung nicht zu erwarten – wohl aber, wie ich es sagte, durch den Verzicht auf eine Medikation. Es muss mit den Betroffenen abgesprochen werden, ob es ihnen reicht, keine Tabletten zu nehmen, kein Insulin spritzen zu müssen, um den häufig nicht einfachen Wechsel der Lebensgewohnheiten vorzunehmen.

Sie haben Probleme mit meiner Formulierung, die Patienten “gleichsam aus ihrer Diabeteserkrankung zu entlassen”. Ich kann mir vorstellen, dass es für eine/n Diabetologen/in kränkend sein kann, gewissermaßen einen Teil der eigenen Arbeitsgrundlage dadurch zu verlieren, dass die Patienten ihre Diabetes-Diagnose verlieren.

Selbstverständlich vereinbare ich mit den über 70-Jährigen, deren HbA1c um oder sogar unter 7,0% liegt, jährliche Kontrollen, um bei erneuter Gewichtszunahme, Infekten, konsumierenden Erkrankungen oder Ähnliches erneute HbA1c-Anstiege nicht zu verpassen.

Aber ich verzichte im Sinn der Gesundheit meiner Patient*innen auf die 20 Euro pro Quartal fürs DMP – allein das Label “Diabetes” zu tragen, verursacht bei nicht wenigen Menschen das – medizinisch nicht gerechtfertigte – Gefühl, krank zu sein.

Gerade erst habe ich bei einer 82-jährigen Patientin nach 20-jähriger Betreuung durch einen Diabetologen die Diagnose Diabetes bei einem HbA1c nie über 6,5% gestrichen. Sie können sich vorstellen, dass es eine Weile brauchte, bis sie diese Verunsicherung, 20 Jahre lang unnötig behandelt worden zu sein, verarbeitet hatte.

Dr. Günther Egidi, Facharzt f. Allgemeinmedizin, Bremen

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