Keimbahntherapie ist ein viel diskutiertes Konzept. Man versteht darunter die Manipulation von Keimzellen mit dem Ziel, genetisch bedingte Erkrankungen zu behandeln. In Deutschland ist es bisher verboten, die Erbinformation einer menschlichen Keimbahnzelle künstlich zu verändern.
Keimbahnmanipulationen greifen in ein überaus komplexes System ein, das wir bisher nur sehr unvollkommen verstehen. Für viele Vorgänge sind keine kausalen Mechanismen, sondern nur statistische Assoziationen bekannt. Dadurch besteht ein relativ hohes Risiko, dass ein Eingriff nicht den gewünschten Effekt hat oder sogar großen Schaden anrichtet. Auch geht man heute davon aus, dass Gene nur einer von vielen Faktoren sind, die gemeinsam ein Merkmal bestimmen, sodass die Auswirkungen einer Manipulation nicht verlässlich vorhergesagt werden können.
In der Medizin werden Risiko und Nutzen neuer Therapien üblicherweise mit quantifizierbaren Größen wie Mortalität oder Morbidität erfasst, verglichen und beurteilt. Wenn Risiko oder Nutzen nicht quantifiziert oder aus ethischen Gründen nicht ermittelt werden können, versagt diese Methode.
Darüber hinaus ist eine reine Risiko-Nutzen-Bewertung nicht ausreichend: Selbst Handlungsoptionen mit dem größtmöglichen Nutzen müssen verworfen werden, wenn dadurch ethische Prinzipien verletzt werden. Es ist also bei der Beurteilung von Keimbahnmanipulationen auch notwendig, ethische Grundsätze zu berücksichtigen.
Im Folgenden die wichtigsten Aspekte:
Die Würde des Menschen
In welchem Stadium der menschlichen Entwicklung beginnt der Anspruch auf Wahrung der Menschenwürde? Kommt diese nur geborenen Menschen oder auch imprägnierten Eizellen und Embryonen zu? Verschiedene Modelle versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
- Nach dem leistungstheoretischen Konzept steht die Menschenwürde einem Wesen zu, das selbstbestimmt lebt und sich selbst darstellt. Damit sind Embryonen von der Menschenwürde ausgeschlossen.
- Auch die Anerkennungstheorie geht davon aus, jeder Mensch müsse sich als moralisch vollwertiges Gegenüber anerkannt fühlen und beschränkt die Menschenwürde damit auf geborene Menschen.
- Nach gattungsethischem Verständnis jedoch ist das menschliche Genom durch die Menschenwürde geschützt und Keimbahneingriffe sind grundsätzlich unzulässig.
- Vertreter des mitgifttheoretischen oder werttheoretischen Konzepts beurteilen diese Fragestellung unterschiedlich.
Zu berücksichtigen ist außerdem der erste Artikel des Grundgesetzes, welcher die Würde jedes Menschen schützt. Dieses Verständnis deckt sich mit philosophischen Konzepten. Während ethische Grundsätze gegeneinander abgewogen werden dürfen, ist der Schutz durch das Grundgesetz abwägungsresistent.
Hier stellt sich die Frage, ob die Würde zukünftiger Menschen durch Eingriffe in die Keimbahn verletzt wird oder ob es nicht vielmehr unwürdig wäre, diese Menschen einem vermeidbaren Leid auszusetzen.
Das Recht auf Leben und Unversehrtheit
Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – das umfasst auch das Recht auf medizinische Hilfe. Gelten diese Rechte auch schon vor der Geburt?
Folgende Argumente werden im Ethikrat kontrovers diskutiert:
- Das Speziesargument besagt, dass alle menschlichen Wesen ungeachtet ihrer Eigenschaften geschützt sind.
- Laut dem Kontinuitätsargument entwickelt sich der Embryo nicht zum Menschen sondern als Mensch: Es gibt in der Entwicklung des Menschen keine klar definierbaren qualitativen Entwicklungsschritte, die den moralischen Status verändern.
- Gemäß dem Identitätsargument gibt es keinen Grund, einen Embryo moralisch anders zu behandeln als einen erwachsenen Menschen, da ein Mensch von der Zeugung bis zum Tod genetisch im Wesentlichen gleich bleibt.
- Das Potenzialitätsargument besagt, dass ein entwicklungsfähiges menschliches Wesen zwar noch keine Selbstbestimmung besitzt, jedoch das Potenzial dazu hat und deswegen schützenswert ist.
Die Freiheit des Menschen
Welche Aspekte der menschlichen Freiheit berührt ein Eingriff in die Keimbahn?
- Die Forschungsfreiheit: Diese ist durch das Grundgesetz geschützt und kann nur eingeschränkt werden, um andere verfassungsrechtlich fundierte Rechte nicht zu verletzen.
- Wenn Ärzte therapeutisch in die Keimbahn eingreifen, wird ihre Berufsfreiheit durch das Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der Patienten begrenzt.
- Die im Grundgesetz verankerte Fortpflanzungsfreiheit schützt jede medizinisch mögliche oder sinnvolle Maßnahme vor staatlicher Reglementierung.
- Keimbahneingriffe können die Lebensgestaltung zukünftiger Individuen mit verändertem Erbgut beeinflussen und berühren daher auch deren Freiheit.
Was ist erlaubt – und was nicht?
Nur mit Hilfe der Forschung können Einsatzfelder, Sicherheit und Folgen von Keimbahneingriffen abgeschätzt und diskutiert werden. Ist verbrauchende Embryonenforschung also ethisch vertretbar? Sind wir dazu berechtigt, klinische Studien zu Keimbahneingriffen durchzuführen und Keimbahneingriffe therapeutisch durchzuführen? Wann ist dies vertretbar und wie müssen ethisch vertretbare Studien zu therapeutischen Keimbahneingriffen durchgeführt werden?
Wer den vermutlichen Nutzen von Keimbahneingriffen höher bewertet als den Schutz menschlicher Embryonen, wird die Forschung an Keimbahneingriffen befürworten oder möglicherweise sogar als geboten betrachten. Wer es als wichtiger erachtet, das Leben menschlicher Embryonen auch außerhalb des Körpers zu schützen, wird gegenteilig entscheiden oder sehr hohe Hürden für die Forschung aufstellen. Die Kernfrage der Diskussion ist damit, ob die Rechte des frühen Embryos juristisch und moralisch höher einzuschätzen sind als die Forschungsfreiheit, die Fortpflanzungsfreiheit oder der Wunsch nach Heilung. Beide Standpunkte können es erlauben, an Embryonen zu forschen, wenn die notwendigen Erkenntnisse nur an Embryonen gewonnen werden können.
Weil die ethischen Fragen sehr komplex sind und Eingriffe in die Keimbahn gewaltige gesellschaftliche Folgen haben, muss die Forschung von einer gesellschaftlichen Diskussion begleitet werden. Auch soziale Auswirkungen müssen untersucht werden. Begleiterscheinungen, wie die Diskriminierung von Menschen mit erblichen Krankheiten, könnten dazu führen, dass der Forschung Grenzen gesetzt werden. Auch müsste weitere Forschung an Embryonen abgelehnt werden, wenn Chancen und Risiken negativ eingeschätzt werden oder Zweifel auftreten, dass die Methode zukünftig beherrschbar oder klinisch notwendig sein wird.
Schlussfolgerungen des Deutschen Ethikrats
- Die menschliche Keimbahn ist nach der ethischen Analyse nicht unantastbar.
- Neben Chancen-Risiken-Abwägungen müssen ethische Orientierungsmaßstäbe berücksichtigt werden.
- Hinreichende Sicherheit und Wirksamkeit sind grundsätzliche Voraussetzung, um Keimbahninterventionen für zulässig zu erklären.
- Der Deutsche Ethikrat fordert, die Keimbahneingriffe beim Menschen aufzuschieben und empfiehlt eine verbindliche internationale Vereinbarung, wenn möglich unter der Ägide der Vereinten Nationen.