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AusnahmearztDer “Columbo” aus Murnau

Georg Hiltner ist in vielerlei Hinsicht ein Ausnahmearzt. Er lernt zunächst Schmied, Jahre später eröffnet er die erste neurochirurgische Praxis der KV Oberbayerns. Die Geschichte eines Mannes, der sein Handwerk liebt.

“Dr. med. Georg Hiltner, Praktischer Arzt, Anästhesist, Neurochirurg” prangt in schwarzen Lettern auf weißem Blech. So recht passt das Praxisschild nicht zur aus Holzbrettern gezimmerten Tür.

Dahinter eröffnet sich eine Welt aus Metall. Zangen und Schraubendreher hängen ordentlich neben Hobel und Seitenschneider. Alte Einmachgläser, gefüllt mit Nägeln und Schrauben, sind an den Deckenbalken befestigt.

An der Rückwand steht ein ausrangierter Kühlschrank, die Schubladen prall gefüllt mit noch mehr Werkzeug.

Zwar hat Georg Hiltner den Arztkittel inzwischen an den Nagel gehängt, doch das Praxisschild ziert noch immer seine Werkstatttür. Bill, wie er unter Freunden heißt, ist gelernter Schmied und Hufschmied – und Facharzt für Anästhesie, Intensivmedizin und Neurochirurgie.

Dazu kommen Weiterbildungen zum Tauch- und leitenden Notarzt, in Tropen-, Flug- und Sportmedizin. Der 69-Jährige trägt Jeans und Flanellhemd. Seine Statur ist kräftig, die Hände schwielig, er spricht Oberpfälzer Dialekt.

Sein lausbübisches Lachen jedoch verrät den scharfen Verstand, der sich hinter der Fassade des Handwerksburschen verbirgt.

Bills Vater war Landwirt. 18 Tagwerk bewirtschaftet die Familie, Bill ist das zweite von fünf Kindern. Anders als seine Geschwister sehnt er sich früh danach, sein enges Zuhause zu verlassen.

Mit dem Zug besucht er gerne seine Tante Else im nahe gelegenen Regensburg. “Eine Verbindung in eine andere Welt”, erzählt er, bis heute ein für ihn unvergessenes Gefühl der Freiheit.

Er träumt vom Abitur, doch seine Lehrerin traut ihm das Gymnasium nicht zu. Dann, nach der Volksschule, folgt der erste Schritt in die Freiheit.

 

Vom Schmiedeeisen zum Vokabelheft

Im Kloster St. Ottilien am Ammersee beginnt er seine Lehre zum Schmied und Hufschmied. Bill begeistert es, das Eisen zu formen. In den Ge- werken des Klosters lernt er, wie man Holzverbindungen herstellt und Schuhe besohlt.

Er hilft in der Landwirtschaft, in der Schlosserei und beim Dachdecken des Turms der Klosterkirche. Und dort wird ihm auch klar, dass er mehr will im Leben: “Wer damals das Abitur hatte, war so hoch oben, den musstest du mit Sie anreden.

So wollt ich auch sein.” In seinem Lehrmeister findet er erstmals einen Unterstützer. Von ihm lernt er, in schwierigen Situationen die Ruhe zu bewahren und zu improvisieren.

Bruder Theodulf erkennt schnell, welch ein gescheiter Geist in dem jungen Mann steckt, und ermutigt ihn, sein Abitur nachzuholen.

Der Rat des Lehrmeisters verschlägt Bill zurück nach Regensburg, wo er vier Jahre das Abendgymnasium besucht. Unterricht von halb sechs bis zehn Uhr abends, danach sitzt er bis drei Uhr früh vor den Büchern.

Um sieben arbeitet er wieder in der Werkstatt oder auf der Baustelle, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn die Kollegen Brotzeit oder Mittagspause machen, holt er sein Vokabelheft aus dem Werkzeugkasten und paukt Englisch- oder Lateinvokabeln.

Er will studieren, denkt an Maschinen- oder Flugzeugbau. Doch noch öfter träumt er davon, ein Landarzt zu werden, der bei sämtlichen Krankheiten und Geburten hilft, Pferden die Hufe beschlägt und Kühen die Klauen schneidet.

Schließlich studiert er Medizin: zunächst in Regensburg, später in München. Der menschliche Körper fasziniert ihn damals wie heute. “Das Herz – jeden Tag pumpt es so viel Blut wie der Inhalt des Jauchefasses, das wir früher mit aufs Feld genommen haben – pitschuu, pitschuuu – ein Leben lang, ohne Stillstand.

Oder die Knochenbälkchen, was die für ein Gewicht aushalten. So sind Kräne dem Knochen nachgebaut.” Die Eltern haben kein Geld, um ihn zu unterstützen. Bill arbeitet neben dem Studium, zunächst als Schlosser.

Er fährt Milch, Kohlen und Heizöl aus, kellnert beim Oktoberfest, ist Handlanger in der Notaufnahme und Sanitätshelfer. Zwei Mark fünfzig darf er pro Tag verbrauchen, hat er für sich ausgerechnet.

Einmal verliert er zehn Mark beim Kartenspielen, darauf folgt eine schlaflose Nacht.

Der Ausnahmearzt

Seine erste Stelle bekommt er als Assistenzarzt im Kreiskrankenhaus in Garmisch-Partenkirchen. Dort ist er rasch als “Ausnahmearzt” bekannt, erzählt der damalige Oberarzt Georg Ringsgwandl.

Für einen leicht minderbemittelten Burschen vom Land habe man ihn anfänglich gehalten, sagt Ringsgwandl, der mit Bill bis heute gut befreundet ist. Die Disziplin Innere Medizin trauen ihm viele wegen der Komplexität nicht zu, seinen Dialekt verstehen einige Kollegen nicht.

Doch Bill lässt sich davon nicht abschrecken. Er nutzt jede Gelegenheit, verschiedene Fächer und Kliniken kennenzulernen: “Ich hab`s gemacht wie die Handwerksburschen – von einem zum anderen wandern, und überall das Beste mitnehmen.”

In der Kinderklinik in Garmisch verliebt er sich in Krankenschwester Susanne, die spätere Mutter seiner beiden Kinder.

Zurück zum Altbewährten

Doch wieder engt ihn das Familienleben ein. Es zieht ihn in die Ferne. In seiner Werkstatt hängt ein Foto, es zeigt lachende Kinder in mongolischer Tracht.

In der Mongolei habe er mit einem Leibarzt des Dalai Lama Erfahrungen ausgetauscht, erzählt Bill. Sie ist nur eins der vielen Länder, die er als Arzt bereist hat.

Er zieht die Arbeit in Wüsten und Krisengebieten der Medizin zuhause vor. Weil es dort – ohne Apparatemedizin – nötig ist, den Patienten wirklich anzuschauen, ihn zu befragen, auf Altbewährtes zurückzugreifen.

Bill sammelt und schätzt praktische Tricks. “Bei den Autos, wie erkennst du da, ob ein Radlager kaputt ist? Du bockst es auf, hältst Hartholz an die Achswelle und drehst das Rad… hrrrrrr… dann hörst du, ob das Lager kaputt ist.

Und genauso ist es vor der Geburt eines Kindes. Hartholz überträgt die Herztöne am besten.” Einen Baum, den ein Schaf angefressen hat, rettet man, indem man über der verletzten Stelle einen Trieb von weiter unten einpfropft – so kann das “Blut” über den Umgehungskreislauf wieder fließen.

Und einem Kind gibt man Cola zu trinken, um beim Röntgen die Nierenkelche besser zu sehen. “Man muss viel wissen, um wenig zu tun,” ist Bills Motto. Und: “Keine Medizin ist auch eine Medizin”.

Als Taucharzt bei der Marine verschlägt es ihn unter anderem nach Israel, Indien, Kuala Lumpur, Shanghai, Korea und Südafrika. Ganz besonders prägt ihn aber Kambodscha. Dort leitet er bei den Blauhelmen die medizinische Versorgung und Evakuierung.

Die Grausamkeit, der er begegnet, bringt ihn nah an seine Grenzen. Einer seiner Leute wird erschossen. Viel innere Stärke hat er gebraucht, um nicht schwermütig zu werden, sagt er über diese Zeit.

Zwischen seinen Reisen bildet Bill sich fort. Als Luftrettungsarzt bei der Bergwacht arbeitet er oft die Wochenenden durch. Wegen seiner Facharzttitel und Zusatzbezeichnungen schafft er es ins Guinness-Buch der Rekorde.

Dennoch wirkt er auf viele noch immer nicht wie ein Arzt. Manchmal sitzt er im Notfall noch mit Motorrad-Kluft im Sprechzimmer. Er spricht die Sprache der Patienten vom Land, mit ihm traut sich jeder zu reden.

Genau das schätzen Kollegen jetzt an ihm. Oft kommt er drei-, viermal ins Patientenzimmer zurück, stellt immer wieder Fragen, bis er die Lösung für die Patienten gefunden hat. “Columbo” nennen ihn seine Kollegen daher.

 

Die eigene Praxis

Bills letztes berufliches Projekt ist seine neurochirurgische Praxis, die erste der KV Oberbayerns. Er hat es gemacht wie die Handwerksburschen, die sich am Ende selbstständig machen. “Selber aufsperren, selber zusperren.

Und die Patienten kommen zu dir, nicht ins Krankenhaus, wo du dann zufällig da bist.” Die gute Seele seiner Praxis war Arzthelferin Elfi. Als “besondere Marke” beschreibt sie ihn, sein Umgang mit den Patienten sei “militärisch, aber mit großem Herz” gewesen. “Sie war der ruhende Pol”, sagt er im Gegenzug.

Heute lebt er allein, am Rande von Murnau. Für sein Haus hat er die Praxis verkauft. “Ein solches Haus war mein Lebenstraum, mit großen Fenstern zu den Bergen.” Seit vier Jahren ist er nun Rentner. Von seiner Praxis ist noch das Schild geblieben, es hängt jetzt an der Werkstatttür.

Wäre er noch berufstätig, würde er gern neues Werkzeug entwickeln für die Medizin. Da habe er immer schon viele Ideen gehabt, sagt er. Von seinem Haus aus blickt man über Wiesen und Wälder zu den Bergen, ab und zu fährt unten im Tal der Zug vorbei.

“Hier hab ich alles: Motorräder, Autos, einen Bulldog, meinen Wald.” Nun hat er Zeit, auf seinem Grundstück zu werkeln und an Oldtimer-Motorrädern zu schrauben.

Vor wenigen Jahren hat er die Motorrad-Europameisterschaft für Oldtimer in Schweden gewonnen. Er tritt an eins heran, startet den Motor, lauscht andächtig. “So ein hochtouriger Motor.. drrrrr, drrrrrr.. klingt wie Herzflimmern.”

Sein Traum, ein Landarzt zu werden, hätte für ihn nicht funktioniert.”Wenn die Leute wissen, dass ich Schmied war und die Spritze tut weh, dann sagen sie: Der ist grob, der war ja Schmied. Die Leute stellen sich einen Arzt eben anders vor – mit Krawatte.”

Quellen: Eigene Recherche und Bayerisches Fernsehen: Lebenslinien – “Vom Amboss zum Skalpell” (D, 2018)

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