Liebe Leserinnen und Leser,
vor kurzem präsentierte ein Bekannter mir ganz stolz seine Smartwatch, auf der er genau ablesen kann, wie viel Schritte er an diesem Tag bereits gegangen ist und wie viele Kalorien er zu sich genommen hat. Leider fiel die Bilanz niederschmetternd aus, da er seit zwei Tagen an einer wichtigen Tagung teilnahm und er somit sein „Bewegungs-Soll“ um 91 Prozent verfehlt und pro Tag nur 68 zusätzliche Kalorien verbraucht hatte.
Meine persönliche Bilanz wäre in diesem Fall auch nicht besser ausgefallen, nur weigere ich mich bisher standhaft, mir dieses auch noch Tag für Tag in vierfarbigen Diagrammen und Zahlen zu Gemüte führen zu müssen. Manchen (ungesunden) Verpflichtungen des Alltags kann man nun mal nicht entgehen, aber muss ich mir deshalb auch noch jedes Mal die bittersten Vorwürfe machen? Müssen wir uns und anderen eigentlich ständig beweisen, dass wir uns jederzeit immer vorbildlich, sprich maßvoll, gesund und diszipliniert verhalten?
Prof. Wolfgang Himmel und sein Team publizierten kürzlich im BMJ open die Ergebnisse von Interviews mit Patienten mit Typ-2-Diabetes. Dabei wurde sehr deutlich, wie sehr sich insbesondere Diabetiker unter Druck gesetzt fühlen, stets auf die richtige Ernährung achten zu müssen, sich genügend zu bewegen und im Job möglichst keinen Stress zu haben. Kontrolliert werden sie dabei nicht nur von Ärzten und Kranken-kassen, sondern auch von der Familie, dem Freundeskreis und Arbeitskollegen. Gelingt es ihnen nicht, die vorgegebenen Ziele zu erreichen, fühlen sich viele dieser Patienten als Versager, die ihr Leben nicht „im Griff“ haben. Die Negativspirale in einen dauerhaften Minderwertigkeitskomplex ist in Gang gesetzt.
Der moralische Druck in unserer Gesellschaft, ein gesundes Leben führen zu müssen, hat Dimensionen angenommen, die meiner Meinung nach nicht mehr als „normal“ zu bezeichnen sind, egal, ob jemand krank oder gesund ist. Dass eine Krankheit Schicksal oder Pech sein kann, wird mittlerweile völlig ausgeblendet oder kann nur schwer akzeptiert werden. Ärztliche Diagnosen und Empfehlungen verlieren an Bedeutung. Stattdessen wird weiter an der „Selbstoptimierung“ gefeilt und sich freiwillig einer App als Kontrollinstanz unterworfen, die einem bei Nichterreichen der Ziele ständig ein schlechtes Gewissen bereitet und ein ständiges Gefühl des Versagens vermittelt.
Ich meine, wir sollten uns wieder auf uns selbst und unsere ganz individuellen Qualitäten und Eigenschaften besinnen. Denn Lebensqualität ist auch damit verbunden, mal über die Stränge schlagen zu dürfen. Keiner von uns weiß, was der nächste Tag für jeden Einzelnen bereit hält, deshalb: Carpe diem, lebe den Tag! Höre in dich hinein, was dir persönlich gut tut und lebe es. Das ist oft die beste Medizin, meint Ihre
Dr. Monika von Berg, Chefredakteurin „Der Hausarzt“