Tab. 2: Subtypen des Reizdarm-Syndroms
Terminologie
Die Terminologie des Reizdarm-Syndroms ist in den unterschiedlichen Fachdisziplinen uneinheitlich. Die Symptomatik kann als funktionelles somatisches Syndrom verstanden werden, welches mit relevanten Einschränkungen der Funktionsfähigkeit und des Lebens einhergeht [2, 5].
Mit ICD-10 Diagnosen können Sie es als “Reizdarmsyndrom” (K58), “funktionelle Dyspepsie” (K30) oder “somatoforme autonome Funktionsstörung des unteren Verdauungssystems” (F45.32) klassifizieren.
In der ICD-11 wird das Syndrom wahrscheinlich unter den funktionellen gastrointestinalen Störungen als Reizdarm-Syndrom mit den jeweiligen Unterformen aufgeführt (DD91.XX).
Bestehen jedoch weitere psychobehaviorale Kriterien, lässt sich die Reizdarm-Symptomatik auch im Rahmen einer “somatischen Belastungsstörung” beschreiben (6C20) – zumal häufig funktionelle Syndrome überlappen. Diese Kategorie rückt die sich gegenseitig bedingende multifaktorielle Dynamik aus Stress und Körperbeschwerden in den Fokus [5-7].
Zurückhaltende Diagnostik
Es gibt keinen Biomarker für die Diagnose eines Reizdarm-Syndroms. Eine mikrobiologische Stuhl-Diagnostik auf pathogene Keime ist ebenso wie eine Testung auf Nahrungsmittelallergien und Unverträglichkeiten im Rahmen der Routinediagnostik ohne klaren klinischen Verdacht nicht indiziert (cave: Giardia-Infektion; Tropenanamnese!) [2] .
Anders als von vielen Behandlern erwartet ist eine diagnostische Koloskopie bei Patienten mit Reizdarm-Symptomatik unter 45 Jahren und ohne Hinweis auf abwendbar gefährliche Verläufe anderer Erkrankungen ebenso klar nicht indiziert.
Eine Untersuchung der anorektalen Physiologie (Manometrie, Ballon-Dilatation, Defäkografie) sollte nur in Ausnahmefällen und bei eindeutigem klinischen Verdacht auf eine Störung im Bereich des Beckenbodens erfolgen [2] .
Für die Evaluation der weiteren (somatischen) therapeutischen Optionen empfiehlt sich die Einteilung der Patienten in Subtypen anhand der Klinik und Stuhlbeschaffenheit (s. Tab. 2 und 3).
Individuell therapieren
Die Behandlung des Reizdarm-Syndroms sollte möglichst einen biopsychosozialen Ansatz mit einer gestuften, beschwerdeabhängigen, individuellen Therapie verfolgen. Die Evidenz der einzelnen Therapiemaßnahmen ist oftmals gering bis moderat (hohe Evidenz: Akupunktur; Hypnotherapie/Hypnose; Linaclotid)[2] [5] .
Zudem fehlt in Deutschland auch oftmals die Zulassung für die meisten spezifischen medikamentösen Behandlungsoptionen.
Beraten Sie die Patienten zu allgemeinen Verhaltensweisen im Sinne eines gesunden und körperlich aktiven Lebensstils [5] . Die Einnahme von löslichen Ballaststoffen (zum Beispiel Gerste, Flohsamen, Haferkleie, Bohnen) kann klar empfohlen werden [2] [10] .
Auch wenn bisher nicht ausreichend verstanden, wird ein positiver Effekt dieser Stoffe auf das Mikrobiom, den Metabolismus, die Darm-Transit-Zeit, die Stuhlkonsistenz und die Gallensäure-Absorption diskutiert [2] .
Pfefferminz kann die Reizdarm-Symptomatik verbessern. Chlorid-Kanal-Öffner (wie das Prostaglandin-E1-Analogon Lubiproston) ) sind bei Patienten mit einer obstipierenden Reizdarm-Symptomatik (RDS-O) grundsätzlich auch eine Therapieoption, sind aber in Deutschland nicht zugelassen.
Gleiches gilt für die Sekretagogen (Linaclotid; Plecanatid), die in Deutschland nicht (mehr) auf dem Markt sind. Diese Agonisten besetzen Guanyl-Cyclase-C-Rezeptoren, die zu einer verstärkten intestinalen Flüssigkeitssekretion und Peristaltik sowie einer verringerten Aktivierung von viszeralen Nozizeptoren führen [2] .
Beim Reizdarm vom Durchfall-Typ (RDS-D) kann Rifaximin klar empfohlen werden (Off-Label, da keine Zulassung für Reizdarm-Syndrom in Deutschland). Den Serotonin-5-HT3-Antagonisten Alosetron können Sie bei Versagen der konservativen Therapieoptionen bei Frauen mit RDS-D in Betracht ziehen (nur in den USA zugelassen!).
Trizyklische Antidepressiva können bei Patienten mit einer Reizdarm-Symptomatik (alle Typen) diskutiert werden (keine klare Präferenz für eine Substanz/-klasse; Off-Label-Einsatz) [2] [5] . Zudem können Sie – eingebettet in ein multimodales Behandlungskonzept – den Einsatz von Akupunktur versuchen [5] .
Andere therapeutische Ansätze wie eine FODMAP-Diät, Probiotika, Spasmolytika, Gallensäurebinder und das osmotisch wirksame Laxans Polyethylenglykol können zum derzeitigen Stand nicht als Behandlungsoption empfohlen werden. Gleiches gilt für die in den Medien viel diskutierte Stuhltransplantation [2] .
Grafik zu Tab. 3: Bristol Stool Skala
Tab. 3: Bristol Stool Skala
Psychotherapie integrieren
Die Integration psychotherapeutischer Ansätze sollte frühzeitig erfolgen, ggf. auch im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung. Störungsspezifisch sind hier vor allem Darm-bezogene kognitiv-behaviorale- und hypnotherapeutische Therapieverfahren zu nennen.
Die Therapie sollte neben dem Umgang mit der Hauptsymptomatik auch Faktoren mit einbeziehen, die das Beschwerdeerleben beeinflussen (zum Beispiel Krankheitsängste, Katastrophisierung, Aufmerksamskeitsverzerrung/Hypervigilanz, Somatisierung, Stressempfindlichkeit).
Auch die Vermittlung von Skills kann hilfreich sein (etwa Entspannungsverfahren, kognitive Umstrukturierung, Reduktion von Hilflosigkeitserleben, Expositions-Trainings). Ziel ist die Stärkung von Selbstwirksamkeit, psychologischer Flexibilität, Akzeptanz-Strategien und eine Veränderung der Schmerzwahrnehmung [2] [5] [11] [12] [13] .
Fazit
Der Reizdarm ist ein funktionelles, multifaktorielles Syndrom, welches einer individualisierten biopsychosozialen Diagnostik und Therapie bedarf.
Stellen Sie die Diagnose anhand klinischer Positivkriterien, sofern keine Anzeichen für einen abwendbar gefährlichen Verlauf vorliegen.
Diagnostische Untersuchungen sollten wohlüberlegt und zurück- haltend erfolgen.
Therapeutische Optionen sind vielfältig – meist mit geringer bis moderater Evidenz. Es gibt keinen „Goldstandard“.
Entwerfen Sie gemeinsam mit dem Patienten einen Behandlungs- plan mit bewältigungsorientierten Elementen unter frühzeitigem Einbezug psychosozialer Faktoren.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.
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