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Experten-InterviewMultimedikation? Aber sicher!

Viele Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen benötigen fünf oder mehr Medikamente gleichzeitig. Wie man die Risiken durch Polypharmazie verringern und entbehrliche Medikamente identifizieren kann, erklärt Prof. Daniel Grandt, Koordinator der Leitlinie "Arzneimitteltherapie bei Multimorbidität".

Ältere Menschen nehmen häufig mehr als fünf Medikamente ein.

Gibt es Zahlen dazu, wie oft der Medikationsplan (s. Beispiel im Kasten oben) unvollständig ist?

Grandt: In einer Untersuchung haben wir festgestellt, dass bei einer Krankenhausaufnahme nur 29 Prozent der Patienten mit fünf und mehr dauerhaft verordneten Arzneimitteln einen bundeseinheitlichen Medikationsplan (BMP) besaßen. Bei jedem dritten Patienten, der Arzneimittel von mehreren Ärzten erhielt, war der Plan unvollständig, 17 Prozent der Patienten mit Polypharmazie hatten gar keinen BMP – so zeigt es der BARMER Arzneimittelreport 2020.

Würde die elektronische Gesundheitsakte hier Vorteile bringen?

Das Projekt AdAM der KV Westfalen-Lippe und der BARMER zeigt, dass ein kompletter Medikationsplan auch schon jetzt ohne zusätzlichen Zeitaufwand erstellbar ist. AdAM steht für “Anwendung für ein digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management”.

Dabei erhalten niedergelassene Ärzte mit Einverständnis ihrer Patienten Informationen, die aus den Abrechnungsdaten der Krankenkassen extrahiert werden. Das erlaubt einen guten Überblick über alle verordneten und in einer Apotheke abgegebenen Arzneimittel aller mit behandelnden Ärzte einschließlich der Behandlungsdiagnosen.

Derzeit dauert es aber noch bis zu acht Wochen, bis die Daten der Kassen vorliegen, aber wenn die elektronische Verordnung eingeführt wird, kann ein Medikament unmittelbar zum Zeitpunkt der Verordnung dokumentiert werden. Ein ähnliches Programm läuft erfolgreich bei der AOK Nordost unter dem Namen eLiSa – “electronic Life Saver” – als Selektivvertrag mit Hausärzten.

Was versteht man im Zusammenhang mit Multimedikation unter einer Verordnungskaskade?

Wenn eine Nebenwirkung eines Medikaments nicht als solche erkannt wird, sondern zur Verordnung eines weiteren Wirkstoffs führt, ist das eine Verordnungskaskade. Beispiel: Ein Kalziumantagonist verursacht Knöchelödeme, worauf ein Diuretikum verordnet wird.

Die Kaskade kann sich in diesem Beispiel fortsetzen, wenn es unter dem Diuretikum zu Dranginkontinenz kommt, die mit einem urologischen Medikament bekämpft wird. Ein weiteres wichtiges Beispiel für Nebenwirkungen, die eine Verordnungskaskade anstoßen können, ist die Einnahme eines NSAR. Diese Substanzen können den Blutdruck erhöhen und die Wirkung von Blutdrucksenkern abschwächen. Ferner können sie die Symptome bei Herzinsuffizienz verschlimmern.

Gibt es Anzeichen für einen Rückgang von Multimedikation, Stichwort Deprescribing?

Nein. Ein Vergleich der pro BARMER-Versicherten verordneten Tagesdosen zeigt zwischen 2014 und 2018 sogar einen weiteren Anstieg um vier Prozent.

Was kann Anlass für ein Deprescribing sein?

Beim Deprescribing geht es nicht darum, Tabletten zu zählen und einfach die Zahl der verordneten Medikamente zu verringern. Nicht Sparen ist das Ziel, sondern Verbessern des Outcomes. Man sollte daher etwa beim Auftreten neuer Symptome schrittweise für jedes Medikament prüfen, ob es für die Beschwerden verantwortlich sein kann und es der Patient tatsächlich benötigt.

Kriterien dafür sind, ob ein Wirkstoff lebenswichtig ist, die Lebensqualität verbessert oder nur ein Risiko senkt. Zu berücksichtigen sind dabei immer die Ziele und Wünsche des Patienten: Hat für ihn Lebensverlängerung höchste Priorität oder geht es ihm primär um seine Lebensqualität?

Die oft zitierte Studie von Garfinkel [1] aus dem Jahr 2010 zeigte, dass man bei den meisten älteren Patienten mit Multimedikation einzelne Wirkstoffe weglassen konnte und sich als Folge davon die Lebensqualität verbesserte. Nur ein kleiner Teil der abgesetzten Wirkstoffe musste wieder angesetzt werden.

Wie geht man beim Deprescribing vor?

Zuerst hinterfragt man Indikation und Notwendigkeit aller verordneten Medikamente. Stößt man dabei auf ein möglicherweise entbehrliches Mittel, setzt man es ab bzw. schleicht es aus und beobachtet, wie es dem Patienten danach geht.

Was sind typische Kandidaten für entbehrlich (gewordene) Medikamente?

Viele Patienten brauchen zwar ein Diuretikum, aber manchmal wird es verordnet, ohne dass man die Notwendigkeit je wieder prüft. Das gilt auch für Levothyroxin, wenn es nicht gerade nach Hashimoto-Thyreoiditis oder partieller Thyreoidektomie gegeben wird.

Viele Patienten ohne eine solche Indikation antworten auf die Frage, warum sie Levothyroxin nehmen: “seit 30 Jahren”. Ein weiteres Beispiel sind PPIs, die oft aus einem temporären Anlass angesetzt und dann ungeprüft zur Dauermedikation werden. Auch hier kann ein Auslassversuch sinnvoll sein. PPIs müssen allerdings ausgeschlichen werden, weil es nach längerer Einnahme bei plötzlichem Absetzen zu einem Säure-Rebound mit Sodbrennen kommen kann.

Eine weitere häufig verzichtbare Wirkstoffgruppe sind Mittel bei erhöhter Harnsäure wie Allopurinol. Dieses soll heute nur noch verordnet werden, wenn ein Patient bereits einen Gichtanfall erlitten hat. 85 Prozent aller Verordnungen entfallen aber auf Patienten mit primärer oder sekundärer Hyperurikämie ohne Gicht und sind daher unnötig.

Übrigens ist das ein weiteres Beispiel für eine Verordnungskaskade: Ein Patient bekommt ein Diuretikum, das die Harnsäure steigen lässt, und dann wird wegen der Hyperurikämie Allopurinol oder das mit gefährlichen kardiovaskulären Nebenwirkungen assoziierte Febuxostat verordnet.

Wann kann es nötig sein, eine Dauermedikation vorübergehend zu pausieren, etwa wenn wegen eines akuten Infekts ein Antibiotikum verordnet werden muss?

Ein Beispiel hierfür ist Azithromycin. Da es die QT-Zeit verlängert, sollten andere Medikamente, die ebenfalls die QT-Zeit verlängern – darunter einige Antidepressiva – pausiert werden. Andernfalls drohen lebensgefährliche Arrhythmien bis zum plötzlichen Herztod. Am besten ist aber, man wählt in so einem Fall gleich ein anderes Antibiotikum ohne Einfluss auf die QT-Zeit.

Oft kommen die Patienten nach einem stationären Aufenthalt mit einer Reihe neuer Medikamente in die hausärztliche Behandlung zurück.

Auch da sollte man prüfen, welche der neuen Medikamente (noch) nötig sind. Übrigens werden bei einer Krankenhausaufnahme häufig nicht alle Medikamente erfasst, die ein Patient zuvor genommen hat, vor allem wenn es keinen kompletten Medikationsplan gibt. Außerdem wird in Entlassberichten viel zu selten begründet, warum eine Medikation geändert oder ein neues Medikament angesetzt wurde.

Wie hilfreich sind Listen wie z.B. PRISCUS für die Praxis?

Ich rate allen, sich mit den rund 80 Substanzen der PRISCUS-Liste [2] auseinanderzusetzen. Erfahrungsgemäß entfällt in einer hausärztlichen Praxis der Großteil der Verordnungen auf etwa 50 Wirkstoffe. Von denen sollte man wissen, ob bzw. wie sie in der PISCUS-Liste beurteilt werden.

Noch ein praktischer Tipp?

Wenn ein Patient mehr als ein Dutzend Medikamente einnimmt, kann man versucht sein, alles zu belassen, weil man gar nicht weiß, bei welchem Wirkstoff man beginnen soll. Wichtig ist, auch in solchen Fällen einen Anfang zu machen und einzelne Präparate auf ihre Notwendigkeit abzuklopfen. Wenn man dabei auf ein Mittel wie Allopurinol stößt, kann man es ohne Gefahr weglassen, wenn der Patient keine Gichtanamnese hat.

Quellen:

  1. Garfinkel, D & Manig, D. Less is more. Feasibility Study of a Systematic Approach for Discontinuation of Multiple Medications in Older Adults. Arch Intern Med. 2010;170(18):1648–1654
  2. www.priscus.net
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