“Bars, in denen man sich trifft, sterben aus, heute sind Dating-Apps aktuell”, erklärte Dr. Sven Schellberg, Berlin. Der Drang, die neuen technischen Möglichkeiten zu nutzen, sei extrem groß und keineswegs auf Homosexuelle begrenzt. Die Vorteile dieser Art der Kommunikation sind leicht nachvollziehbar: Es benötigt nur ein paar Klicks, um zu wissen, ob es in der Nähe jemanden gibt, der die momentanen Interessen teilt. Zudem gewähren diese Apps die Anonymität und es entfällt die Angst, gesehen zu werden. Dazu kommen die Faszination der ständigen Verfügbarkeit und “dass man schlicht dabei sein muss, wenn man in der Szene wahrgenommen werden möchte”, so Schellberg. Die Kehrseite besteht in einem andauernden ‚online-Stress‘, der Beliebigkeit und Oberflächlichkeit der Kontakte sowie der Zeit, die man dadurch zusätzlich mit dem Internet verbringt. Frustration entsteht beispielsweise durch das ‚Ghosting‘, bei dem der Chat-Partner plötzlich verschwindet, und samt seiner Seite nicht mehr auffindbar ist.
Vor dem eigentlichen Kontakt werden über die Dating-App die Präferenzen anhand einer einfachen Codesprache abgeklärt. So bedeutet etwa “drauf sein”, dass eine Substanz genommen wurde, “T” bzw. “Tina” ist der Code für Methamphetamin (Crystal Meth). Die Substanzen (“Chems”) werden meist kurz vor oder während dem Sex konsumiert. Sie sollen die Enthemmtheit und die sexuelle Intensität steigern und allgemein die Leistungsfähigkeit erhöhen. “Die verwendeten Substanzen sind ‚entaktogen‘, erhöhen also die Kontaktfreudigkeit gegenüber einem völlig fremden Partner”, erklärte Schellberg.
Die doppelte Abhängigkeit
Wie der Weg in die Abhängigkeit aussehen kann, schilderte der Ex-User “Norbert”, der nach der HIV-Diagnose und einem beruflichen Burnout mit Cannabis in den Drogenkonsum einstieg. Über etwa 15 Jahre konnte er den Konsum unterschiedlicher Substanzen gut kontrollieren, nahm sie nur am Wochenende und immer in Kombination mit Sex. Dann allerdings kam er in Kontakt mit Crystal Meth und wurde sehr schnell abhängig. Vordergründig fühlte er sich in dieser Zeit “gefragt, attraktiv und cool”, im Nachhinein wurde ihm jedoch klar, dass er sein Leben nur auf den Drogenkonsum und Sex fixierte und er sozial vollkommen isoliert war – echte Freunde hatte er keine. Viel Zeit vergeudete er mit “sinnlosem Chatten in Dating-Portalen”, berichtete Norbert.
Seine Abstinenzkarriere begann, als sein Hausarzt ihn auf den Konsum ansprach. Er konnte ihm jedoch keine Anlaufstelle nennen und war bezüglich des weiteren Verfahrens relativ ratlos. Zudem bestand bei Norbert zu diesem Zeitpunkt noch kein Problembewusstsein – er glaubte, seinen Drogenkonsum im Griff zu haben. So dauerte es noch über ein Jahr bevor er sich an eine Sucht-Ambulanz wandte. Mit Hilfe verschiedener Selbsthilfegruppen, einer Entzugstherapie, einer Langzeit-Entwöhnungstherapie sowie ambulanter Nachsorge gelang es Norbert, im Verlauf eines Jahres von den Drogen bzw. dem Chemsex wegzukommen. Eine Verhaltenstherapie half ihm, sich zu stabilisieren.
Die Frage, ob sich dieser mühevolle Weg in die Abstinenz gelohnt hat, beantwortet er mit “Ja”. Denn es ist ihm wichtig, “einen klaren Kopf zu haben, klare Entscheidungen zu treffen und echte Freundschaften pflegen zu können.” Als nicht-Konsument wird er in der Szene allerdings oft ausgegrenzt. Der Suchtdruck lässt laut Norbert mit der Zeit zwar nach, vollständig vergehe er jedoch nicht. Mittlerweile engagiert er sich als Gruppenleiter verschiedener Selbsthilfegruppen, darunter eine für homosexuelle Männer mit Chemsex-Problematik.
Therapiekonzepte
Aus Patientensicht war es rückblickend schwierig, für die neue Suchtvariante – Drogen- und Dating-App-Abhängigkeit – eine erste Anlaufstelle sowie eine passende Selbsthilfegruppe zu finden. Auch nach einer Einrichtung für die Langzeit-Entwöhnungstherapie musste Norbert länger suchen und fand schließlich die Salus Klinik Hürth. Für Betroffene ist es daher sehr hilfreich, wenn ihnen der Hausarzt entsprechende Anlaufstellen nennen kann. Dafür reiche Norbert zufolge bereits ein einfacher Flyer.
Aus Ärztesicht sind “neue Strategien erforderlich, um diese Patienten adäquat zu behandeln”, erklärte Dr. Martin Viehweger, Berlin. Dazu gehören etwa Leitlinien und Behandlungsleitfaden sowie Schulungen des medizinischen Personals über die spezielle Situation und Anforderungen dieser Patienten und insbesondere ein interaktives und integratives Netzwerk. “Um diese Synergien zu schaffen, haben wir uns zum ChemSexNetzwerk Berlin zusammengeschlossen”, berichtete der Allgemeinmediziner. Das Netzwerk besteht unter anderem aus Schwerpunktpraxen, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, ambulanter und stationärer REHA sowie Präventions-Kontaktstellen. Es wurden verschiedene Arbeitsgruppen etabliert (z.B. Ag Leitlinien, Forschung, Behandlungspfade etc.), die regelmäßig zusammenkommen und an den gemeinsamen Zielen arbeiten.
Quelle: Symposium: “ChemSex 2019 – ein Update”, im Rahmen der 8. Münchner AIDS- und Hepatitis-Werkstatt am 29.3.2019