Berlin. In vielen Städten geht die Angst vor Fahrverboten um. Da Grenzwerte für Luftschadstoffe wie Stickoxide dauerhaft überschritten werden, müssen die Kommunen handeln. Schließlich ist die Gesundheit der Bürger vor Ort in Gefahr. Oder stimmt das so gar nicht? Zumindest zweifeln mehr als hundert Lungenspezialisten, ob die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub überhaupt wissenschaftlich gerechtfertigt sind.
Was ist der aktuelle Forschungsstand?
In einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) von Ende 2018 heißt es: “Gesundheitsschädliche Effekte von Luftschadstoffen sind sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Patienten mit verschiedenen Grunderkrankungen gut belegt.” Feinstaub kann je nach Partikelgröße bis in die Lunge oder den Blutkreislauf eindringen. Die Wirkung reicht laut Umweltbundesamt von einer bloßen Reizung der Schleimhaut und lokalen Entzündungen bis hin zu Ablagerungen in den Blutgefäßen. Stickoxide schädigen vor allem das Gewebe in Bronchien und Lungenbläschen und können vor allem Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen beeinträchtigen.
Was ist die Kritik der Lungenspezialisten?
In der Stellungnahme, die 113 von 3800 angeschriebenen Experten unterzeichnet haben, geht es grundsätzlich um die Herangehensweise bei bestimmten Studien. So wird kritisiert, dass epidemiologische Studien zwar “mehr oder weniger regelhaft eine sehr geringe Risikoerhöhung in staubbelasteten Gebieten” finden. Daraus könne aber nicht automatisch eine Ursache-Wirkung-Beziehung abgeleitet werden. Es könnte ja sein, dass in bestimmten Gebieten der Lebensstil ein grundsätzlich anderer ist. Sie sehen deshalb keine wissenschaftliche Begründung der Grenzwerte und fordern eine Neubewertung der relevanten Untersuchungen.
Ist die Kritik gerechtfertigt?
Sie ist relativ pauschal und greift nicht einzelne Untersuchungen auf. Deshalb sind die Vorwürfe schwer nachzuprüfen. Umweltmediziner betonen, dass es sehr viele und umfangreiche Studien gibt, die die schädlich Folgen von Luftschadstoffen zeigen. Dabei handele es sich sowohl um epidemiologische Studien als auch um Tierversuche und Untersuchungen mit Menschen. Die gezeigten Effekte seien völlig unabhängig von anderen Faktoren wie zum Beispiel dem Rauchen. DGP-Präsident Klaus Rabe spricht von einer umfangreichen Datenlage, verweist aber auch auf Lücken. Er plädiert für eine Etablierung einer Mängelliste mit Blick auf die wissenschaftliche Erkenntnisse.
Welche Grenzwerte gibt es für Feinstaub und Stickoxide?
Feinstaub entsteht beispielsweise im Verkehr zum Beispiel durch Verbrennungsmotoren, aber auch Reifenabrieb. Die Grenzwerte für Feinstaub hängen von der Partikelgröße ab. Als besonders gefährlich gelten Teilchen mit weniger als 2,5 Mikrometern Durchmesser (PM2,5), die sich in Bronchien und Lungenbläschen festsetzen oder sogar ins Blut übergehen können. Für sie gilt in Europa ein Wert von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel. Für Teilchen mit einem maximalen Durchmesser von 10 Mikrometer (PM10) liegt der Tagesgrenzwert bei 50 Mikrogramm pro Kubikmeter und darf nicht öfter als 35 Mal im Jahr überschritten werden. Bei den Stickoxiden (NO2) darf gemäß dem EU-weiten Grenzwert im Jahresmittel die Belastung im Freien nicht über 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft liegen. Stickoxide sind Reizgase, die ebenfalls bei Verbrennungsprozessen etwa im Straßenverkehr entstehen.
Woher kommen die Grenzwerte?
Sowohl die Werte für Feinstaub als auch für NO2 wurden vor Jahren auf EU-Ebene festgelegt. Der gültige Jahresmittelwert für Stickoxide beruht auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Der Grenzwert soll laut Umweltbundesamt die Gesundheit auch besonders anfälliger Menschen schützen, selbst wenn sie dauerhaft den Schadstoffen ausgesetzt sind. Die WHO hielt aber auch fest, dass es bei Studien an der Bevölkerung schwierig ist, Wirkungen des NO2 von denen anderer Luftschadstoffe zu trennen, da Menschen eben nicht nur einem einzelnen Schadstoff ausgesetzt sind.
Welche Auswirkungen haben Grenzwert-Überschreitungen?
Bei den aktuellen Fahrverboten für ältere Dieselfahrzeuge geht es nur um Stickoxide. Daten des Umweltbundesamtes beispielsweise belegen, dass die meisten Stickoxide im Straßenverkehr von Dieselfahrzeugen stammen. Mehrere Verwaltungsgerichte haben deshalb inzwischen entschieden, ältere Diesel ganz oder teilweise aus den Städten auszuschließen. Stuttgart hatte als erste Stadt Anfang des Jahres ein flächendeckendes Fahrverbot eingeführt. Die Feinstaubwerte sind bundesweit inzwischen soweit zurückgegangen, dass die Behörden laut Umweltbundesamt nur noch wenige Überschreitungen messen können.
Quelle: dpa