© mauritius images / Science Source Schon erstaunlich genau:
die weiblichen Fortpflanzungsorgane, eine Abbildung aus Vesalius‘ Buch „De Humani Corporis Fabrica“ aus dem Jahr 1543.
Wenn dich solche Dinge interessieren, so hindert dich vielleicht Übelkeit, und wenn diese dich nicht hindert, so hindert dich vielleicht die Angst, nachts mit solchen geschundenen und geteilten und schrecklich anzusehenden Toten zu sein…” Dieses Zitat stammt aus einer Einführung in das Studium der Anatomie von Leonardo da Vinci (1452 bis 1519).
Man muss sich das plastisch vorstellen: keine Konservierungsmittel, keine Desinfektion, nur Kerzenlicht, die Leichen von Mördern, die gefoltert und hingerichtet worden waren, nach drei bis vier Tagen bestialischer Verwesungsgeruch, vor allem bei warmem, feuchtem Wetter.
Bemerkenswert, was Leonardo da Vinci und andere ertragen haben, um das Funktionieren des menschlichen Körpers zu untersuchen und zu verstehen.
1506 untersuchte Leonardo seine erste Leiche: die eines 100-Jährigen. Er hatte dessen friedlichen Tod miterlebt und wollte “den Grund für einen so süßen Tod” herausfinden. Das Ergebnis war die erste bekannte Beschreibung einer Atherosklerose. Insgesamt untersuchte der geniale Künstler etwa 30 Leichen.
Die 750 anatomischen Zeichnungen Leonardos sind erstaunlich genau. Keine von ihnen hat er veröffentlicht, aus Angst vor der Zensur. Dennoch riskierte Leonardo mit den Sektionen nicht die Verfolgung weltlicher und kirchlicher Autoritäten. Leichenöffnungen zum Studium waren in der Renaissance gestattet, allerdings unter strengen Auflagen.
Vesalius wurde zeitlebens kritisiert
Schon vor der Renaissance hatten Ärzte Leichen seziert und sich um die Anatomie verdient gemacht: Im Alexandria in den 200er Jahren v. Chr. etwa waren Sektionen, vor allem an Kriminellen, erlaubt. So gilt der griechische Arzt Herophilos, der an der medizinischen Schule in Alexandria wirkte, als der Begründer der wissenschaftlichen Anatomie.
Die Kirche in Europa verbot dann aber Sektionen an menschlichen Leichen. Erst Anfang des 14. Jahrhunderts erhielt Mondino de Luzzi, Professor an der Universität Bologna, vom Vatikan die Erlaubnis zu einer öffentlichen Sektion – die erste seit Herophilos.
Grundstein der neuzeitlichen Anatomie war dann das Werk “De Humani Corporis Fabrica (Über den Aufbau des menschlichen Körpers)” aus dem Jahr 1543. Verfasser war der erst 28-jährige, aus Flamen stammende Anatom und Chirurg Andreas Vesalius (1514 bis 1564). 1539 ordnete ein Richter in Padua an, Vesal die Körper aller hingerichteten Kriminellen zur Verfügung zu stellen. Später sezierte der Anatom öffentlich in Bologna.
Vesalius unternahm viele Sektionen und arbeitete sehr sorgfältig. Er verglich seine Beobachtungen kritisch mit der damals herrschenden klassischen Anatomie-Doktrin des als unfehlbar geltenden Galen. Das führte zu Konflikten und entsetzte so manchen Kollegen. Zum Beispiel galt nach Galen, dass das Brustbein aus sieben Teilen bestand und der Unterkiefer aus zwei. Vesal zeigte jedoch, dass das Brustbein nur drei Teile hat und der Unterkiefer ein einziger Knochen war.
© mauritius images / United Archives Der Anatom und Chirurg Andreas Vesalius (1514 - 1564).
Seine erste menschliche Sezierung fand angeblich an einem Skelett statt, das er vom Galgen gestohlen hatte.
Er erklärte die Unterschiede damit, dass Galen nur Tiere seziert hatte. Vesalius beschrieb das System der Venen und Arterien als “einen Baum, dessen Stämme sich in Äste und Zweige aufteilen”. Für ihn waren das Gehirn und das Nervensystem das Zentrum des Denkens und der Gefühle und nicht das Herz, wie Aristoteles gelehrt hatte und was noch immer herrschende Meinung war.
Bei all dem achtete er jedoch darauf, die Kirche nicht zu erzürnen. Er blieb vorsichtig und rührte etwa nicht an die Lehre, dass das Herz Sitz der Seele sei.
Die Geschäfte mit Leichen blühten
Vesals großes Werk war mit Holzschnitten des Tizian-Schülers Jan Stefan von Calcar illustriert. Dank der Erfindung des Buchdrucks verbreitete sich das Buch schnell in ganz Europa. Vesalius selbst wurde zum Arzt am Hof Kaiser Karls V. ernannt. Doch seine Kritiker verstummten bis zu seinem Lebensende nicht.
Im 17. und 18. Jahrhundert durften nur noch zertifizierte Anatomen Leichen sezieren. Die Bedingungen waren streng. Der Mangel an Leichen führte zu regelrechten Auswüchsen: Zum Beispiel sah sich Willam Harvey (1578 bis 1657), der Entdecker des Blutkreislaufs, gezwungen, Vater und Schwester nach deren Tod zu sezieren, um überhaupt Leichenöffnungen vornehmen zu können.
Es gab Grabräuberei und einen schwunghaften Handel mit Leichen. Am brutalsten waren William Burke und William Hare aus Edinburgh: 1828 ermordeten die beiden 16 Menschen, nur um ihre Leichen für Sektionen zu verkaufen.
Wie funktioniert der Körper?
Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert wurden zunehmend empirische Methoden angewandt, um das Funktionieren des Körpers sowie Krankheit und Gesundheit zu verstehen. Besonders Santorio Santorio (1561 bis 1636), Professor für Theoretische Medizin in Padua, nahm das als eine persönliche Herausforderung an. Er erklärte das Funktionieren des Körpers rein mechanisch und orientierte sich an Physik, Chemie und Mathematik.
30 Jahre lang wog er alles, was er aß, trank und ausschied. Dazu hatte er einen “Wiegestuhl” erfunden, eine Art Plattform, die an einem beweglichen Arm hing. Auf diese Weise fand er etwa heraus, dass er pro 3,6 Kilo Nahrung nur 1,4 Kilo wieder ausschied.
Santorio erfand jedoch nicht nur seinen Wiegestuhl. Er wollte schließlich alle Phänomene des Körpers messen. Dazu entwickelte er viele Instrumente. Das bekannteste ist das Thermoskop, um die Körpertemperatur zu messen – der Vorreiter des Fieberthermometers.
Quellen u.a. Eckart, Wolfgang: “Geschichte der Medizin”, Springer; Paul, Gill: “Die Geschichte der Medizin in 50 Objekten”. Haupt Verlag, Bern, 2016; Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci, Köln 2003