Medizinische Aufarbeitung
a) Aktuelle Lage, Vorgeschichte
Bei dem 85-jährigen Patienten stand eine schwere, medikamentös unzureichend behandelbare Depression im Vordergrund. Seit etwa einem Monat lebt er vollständig in sich gekehrt. Er verweigert konsequent jegliche Nahrungsaufnahme und wird über eine PEG-Sonde ernährt. Bis vor Kurzem hatte er die Mundpflege toleriert, jetzt kneift er dabei die Lippen zusammen. Die Beteiligten erleben den Patienten ohne Leidensdruck. Wie viel er versteht, ist schwer zu beurteilen, einfache Aufforderungen konnte er zuletzt befolgen.
b) Handlungsoptionen
Option 1: Fortsetzung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr über die PEG-Sonde, Fortführung der medikamentösen Therapie. Voraussichtlich kann das Leben auf diese Weise für einige Monate verlängert werden. Nach Einschätzung der Psychiaterin wird sich der psychische Zustand nicht mehr verbessern lassen.
Option 2: Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen mit dem Ziel, dem Patienten ein Sterben unter bestmöglicher Palliativversorgung zu ermöglichen: Einstellung der PEG-Sonde, Nahrung und Flüssigkeit oral anbieten sowie ausschließlich leidenslindernde medikamentöse Therapie. Der Patient wird in absehbarer Zeit sterben.
Bewertung I
a) Wohltun und Nichtschaden
Mit Option 1 kann das Leben zwar für eine begrenzte Zeit verlängert, aber die eingeschränkte Lebensqualität nicht verbessert werden. Der Patient wird voraussichtlich weiter in seiner eigenen Welt leben, soweit man das beurteilen kann, ohne Lebensfreude und einen erkennbaren Lebenswillen.
Insofern erscheint es aus der Fürsorgeperspektive zumindest fraglich, ob die Fortsetzung der lebensverlängernden Behandlungen dem Patienten noch einen Nutzen bietet. Den ethischen Prinzipien des Wohltuns und Nichtschadens gemäß wäre folglich am ehesten die Option 2, der Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen geboten.
Eine Komplikation des Falls ist durch die schwere chronische Depression gegeben. Für den Fall einer Depression gilt grundsätzlich, dass zunächst eine Therapie versucht werden sollte, um dem aus psychiatrischen Gründen erloschenen Lebenswillen wieder Raum zu geben. Die psychiatrische Erkrankung dieses Patienten ist jedoch seit Jahren therapierefraktär. Es ist höchst wahrscheinlich, dass auch und gerade im jetzigen Stadium keine medikamentöse Linderung erreichbar sein wird.
b) Respekt vor der Autonomie
Ein vom Patienten selbst konkret und explizit geäußerter Behandlungswille liegt nicht vor. Der Sohn berichtet, dass der Patient es in der Vergangenheit abgelehnt hatte, eine Patientenverfügung zu erstellen. Er habe früher bereits versucht, freiwillig auf Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten, dies aber nie länger als einen Tag durchgehalten.
Der Anlage der PEG-Sonde vor ca. drei Jahren hatte der Patient unter der Voraussetzung zugestimmt, dass sie nur zur Medikamentengabe genutzt werde. Da der Patient schon damals die PEG-Sonde abgelehnt hatte, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass er aktuell zustimmen würde.
Zu berücksichtigen sind zudem die aktuellen Verhaltens-Äußerungen des Patienten: Er verweigert konsequent die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit. Da es keinen Hinweis auf eine Schluckstörung gibt, handelt es sich wahrscheinlich um seine bewusste Entscheidung. Die Teilnehmer sind deshalb überzeugt, dass Option 2 am ehesten dem Willen des Patienten entspricht.
Bewertung II
Bedürfnisse Dritter sind nicht erkennbar relevant für die Entscheidungsfindung.
Synthese
Sowohl die Fürsorge- als auch die Autonomieverpflichtungen sprechen für Handlungsoption 2. Die Teilnehmer sind sich deshalb einig, dass die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr über die PEG-Sonde eingestellt und die medikamentöse Therapie auf eine reine Symptomkontrolle beschränkt werden sollen.
Dem Patienten soll mehrmals täglich Nahrung und Flüssigkeit oral angeboten werden, damit er bei einem aufkommenden Hunger oder Durstgefühl seine Nahrungsverweigerung aufgeben kann. Für den Fall einer sich ändernden Situation wird eine weitere Ethikberatung angeboten.
Kritische Reflexion
Hier wäre u.a. zu prüfen, ob erstens bei der psychiatrischen Erkrankung des Patienten wirklich alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und zweitens ob der Patient Nahrung und Flüssigkeit nicht aus Angst vor dem Verschlucken verweigert.
Weiterer Verlauf
Der Patient verstirbt neun Tage nach Beendigung der Ernährungstherapie. Der Sohn erlebt die Entscheidung auch im Nachhinein als richtig.
Hinweis: Autorenbeitrag und Fallbeispiel wurden stark gekürzt. Sie sind in voller Länge samt Literaturangaben in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin 3/2018 nachzulesen. Marckmann G, Behringer B, in der Schmitten J. Ethische Fallbesprechungen in der hausärztlichen Versorgung: Ein Leitfaden für die Praxis. DOI 10.3238/zfa.2018.0116-0120 Marckmann G, Behringer B, in der Schmitten J. Beendigung der Sondenernährung in einer Pflegeeinrichtung – eine ethische Falldiskussion. DOI: 10.3238/zfa.2018.0121-0124