Im Abstand von nur drei Jahren hat die Bundesregierung zwar zwei Gesetze erlassen, um die wachsenden regionalen Lücken in der kassenärztlichen Versorgung zu schließen (Versorgungsstrukturgesetz in 2012, Versorgungsstärkungsgesetz in 2015). Entsprechend wurden auch jeweils neue Richtlinien für die Bedarfsplanung angeordnet.
In der Fachöffentlichkeit besteht allerdings weitgehend Übereinstimmung, dass weder diese Gesetze noch ihre Planungsinstrumente das Problem der wachsenden Versorgungslücken lösen werden. In der Kritik steht dabei vor allem die undifferenzierte und daher unrealistische Feststellung und Beschreibung des Versorgungsbedarfs in den einzelnen Regionen. Unbeachtet bleiben dabei etwa Gesundheitszustand, Einkommen oder Beschäftigungssituation der Bevölkerung, obwohl dies wichtige Faktoren sind, die zu Unterschieden im Versorgungsbedarf führen.
Die Kritik greift aber noch zu kurz: Denn Gesetze wie Planungsinstrumente ignorieren außerdem, dass es auf der Seite der Ärzte neben der Zulassung und des Hausarzt- oder Facharztstatus noch andere Faktoren gibt, die entscheidend beeinflussen, wo und wie der ärztliche Nachwuchs seine Tätigkeit aufnimmt oder eben nicht. Einer dieser Faktoren ist der wachsende Anteil von Ärztinnen an der Ärzteschaft und die damit steigende Erwartung einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die damit wachsende Neigung zu Anstellung und Teamarbeit.
Es wird nur gelingen, die Versorgung zu verbessern, wenn sie den sozialen Wandel bei Ärzten ebenso wie bei Patienten respektiert und sich daran orientiert. Dies wird unvermeidlich auch auf neue „Arzt-Berufsbilder“ hinauslaufen, die Ärzte und Patienten wieder zusammenführen. Wie und wo entwickeln diese Berufsbilder sich?
Mobile Gesellschaft: Autobahn-Stadt Europa
Im Zuge der Globalisierung hat die Mobilität in Deutschland auch wegen seiner Rolle als Exportwirtschaft und Transitland exorbitant zugenommen. Dies gilt zunächst für die sogenannten „Laptop-Nomaden“, die häufig – regelmäßig oder unregelmäßig – auf Dienstreisen unterwegs sind. Ihre Zahl liegt in Deutschland im zweistelligen Millionenbereich. Bekannte Formen von wohnortferner Erwerbsarbeit sind auch Wochenendpendeln und Wartungsservice. Nach Schätzungen arbeiten 19 Prozent der Beschäftigten in Deutschland häufig oder ständig an wechselnden Orten. Die Folgen dieser exponentiellen Mobilität für die Gesundheit sind mittlerweile ein Thema.
Eine per se mobil tätige, zahlenstarke Gruppe der Erwerbstätigen sind Berufskraftfahrer, insbesondere Fernfahrer. In Deutschland sind das circa 900.000 Beschäftigte und zusätzlich eine nicht bekannte hohe Zahl von Selbstständigen. Von Bedeutung für das Hauptdurchgangsland Deutschland sind auch noch die rund 2,5 Millionen Berufskraftfahrer in den EU-Ländern insgesamt. Mittlerweile hat sich entlang der 68.000 Kilometer Autobahnen in Europa mit 2.400 Autobahntankstellen, 520 Autohofen und hunderten von Logistikzentren eine regelrechte "Autobahn-Stadt Europa" entwickelt. Und diese braucht ebenso wie die traditionellen Gemeinden und Großstadte ihre Ärzte.
Zentren fur Kraftfahrer-Gesundheit
Aus Italien kommt hierzu das Konzept autobahnintegrierter "Zentren fur Kraftfahrer-Gesundheit", in denen vor allem Berufskraftfahrer, andere Mobilerwerbstätige und auch die Wohnbevölkerung aus dem Umfeld ärztliche und sonstige medizinische Leistungen in Anspruch nehmen konnen. Solche Medizinischen Versorgungszentren bevorzugt an den Standorten der großen Autohöfe sind Voraussetzung für eine nachhaltige (kassen-) ärztliche Betreuung der Berufskraftfahrer, insbesondere der Fernfahrer. Diese ist derzeit nicht sichergestellt, da die Standorte der Arztpraxen, Zahnarztpraxen aber auch Apotheken zu weit von den Autobahnen entfernt sind und die Betriebs- und Öffnungszeiten der Praxen mit den Pausen- und Ruhezeiten der Berufskraftfahrer nicht zusammenpassen.
Ein erstes deutsches Pilotprojekt für die autobahnintegrierte (Kassen-) Arztversorgung projektiert die Straßenverkehrs-Genossenschaft (SVG) Hessen am größten deutschen Autohof Lohfelden. Dieser wird an der Kreuzung der wichtigsten Süd-Nord- und Ost-Westautobahnen, dem Kreuz Kassel-Mitte, betrieben. Täglich queren den Autobahn-Knotenpunkt Kassel mindestens 35.000 Schwerlastkraftwagen und 170.000 Kraftfahrzeuge. Fur die (kassen-)ärztliche Versorgung dieser Mobilbevölkerung sind im "Medicum Lohfelden" vorgesehen: Allgemeinärzte, Fachärzte einschließlich Arbeitsmedizin, Physiotherapie und Apotheke.
Vielseitige Tätigkeit
Das Aufgabengebiet für Ärzte in den Zentren für Kraftfahrergesundheit der "Autobahn-Stadt Europa" wird geprägt sein durch die mittlerweile recht gut untersuchte und beschriebene Berufskraftfahrer-Morbidität:
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Muskel-Skeletterkrankungen,
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Verletzungen,
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Atmungsorganerkrankungen,
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Psychische Erkrankungen,
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Erkrankungen des Verdauungsapparates,
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Metabolisches Syndrom,
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Schlafapnoe,
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bösartige Neubildungen,
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Allergien und
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Posttrauma.
Es gibt also viel zu tun.