Dr. Arno Behrendt, praktischer Arzt, ermordet 1944 in Auschwitz; Dr. Dora Gerson, Ärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Selbstmord 1941; Dr. Otto Bloch, Hautarzt, 1942 verschleppt ins Warschauer Ghetto und dort verschollen.
Im Foyer des Ärztehauses in Hannover stehen 15 schwarze Stelen mit gläsernen Köpfen. Der „Arbeitskreis Schicksale jüdischer Ärzte in Hannover“ hat sie hier aufgestellt. Sie erinnern an diejenigen unter den 74 jüdischen Ärztinnen und Ärzten der Stadt, die den NSTerror nicht überlebt haben, erklärt Raimund Dehmlow vom Arbeitskreis.
Diffamierung per Gesetz
Sie erinnern aber auch an das Schicksal der 8.000 jüdischen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland, denen ab 1933 Praxis, Amt, Approbation und Existenz geraubt wurden – per Gesetz. Am 15. September jähren sich die Rassengesetze der Nationalsozialisten zum 80. Mal. Auf ihrem 7. Parteitag 1935 in Nürnberg hat die NSDAP das Blutschutzgesetz und das Reichsbürgergesetz verabschiedet, den meisten bekannter als "Nürnberger Gesetze“. Sie dokumentieren, wie der alltägliche Rassismus legalisiert, das Jüdisch-Sein in Deutschland zu einem quasi biologistischen Erbe verbogen und Juden zu Bürgern zweiter Klasse gemacht wurden. Die Rassengesetze legten fest, wer als „Halbjude“, „Vierteljude“ oder „Volljude“ zu gelten habe. Sie erhoben damit die Ideologie vom ‘reinen deutschen Blut’ und dem ‘unreinen, nicht-arischen Blut’ juristisch zur Staatsdoktrin. Nun waren Diffamierung, Enteignung, Vertreibung, Misshandlungen, Boykotte und Unterdrückung jüdischer Ärzte, aber auch anderer Gruppen wie Zigeuner, legal. Der Unrechtsstaat zeigte sein Gesicht.
„Dabei grassierte der Antisemitismus unter Ärzten schon lange vor den Gesetzen“, sagt die Historikerin Dr. Rebecca Schwoch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätskrankenhauses Hamburg Eppendorf (UKE).
Rassismus hatte unter Ärzten Tradition
Bereits im 18. und 19. Jahrhundert waren viele Juden nach Deutschland gekommen, „sie hatten einen großen Anpassungswillen und wollten sich etablieren“, erzählt Schwoch. So wählten sie für ihre Kinder oft das Medizinstudium. „In Berlin und Breslau gab es deshalb viele jüdische Medizinstudierende.“ Nachdem 1883 die Krankenversicherung eingeführt worden war, ließen sich viele jüdische Ärzte als Kassenärzte nieder. „Denn jede andere Karriere war ihnen als Ärzten praktisch verwehrt“, sagt Schwoch. In Berlin lag der Anteil jüdischer Kassenärzte Ende des 19. Jahrhunderts bei 60 Prozent.
Allerdings waren besonders Berlin und andere Großstädte in Deutschland auch die Heimat großer Gemeinden der insgesamt um die 500.000 Juden, die 1933 in Deutschland lebten. Im Rest des Landes war der Anteil jüdischer Ärzte denn auch weitaus niedriger. Wie dem auch sei – „wegen der niedergelassenen jüdischen Ärzte hat man behauptet, die Ärzteschaft sei ‘verjudet’“, sagt Schwoch. „Vor allem die Standesvertretungen, also Kammern und Kassenärztliche Vereinigungen, wollten jüdische Ärzte aus den Kassensitzen drängen. Es gab ja viele ‘arische’ Jungärzte, die nachrücken wollten.“
Schon mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 wurden jüdische Ärzte aus den Universitäten, den Gesundheitsämtern und der Verwaltung entlassen. Ebenfalls im April ’33 weiteten die Nationalsozialisten die Bestimmungen des Gesetzes mit Unterstützung der ärztlichen Standesorganisationen auf die meisten Kassenärzte aus, wenn auch mit Ausnahmen. Es folgten eine Reihe weiterer Bestimmungen wie das Verbot von Fortbildungen für jüdische Ärzte oder das Überweisungsverbot an jüdische Ärzte. Dann die Rassengesetze. Im September 1938 schließlich erloschen per Gesetz alle Approbationen jüdischer Ärzte.
Manche Ärzte schafften es, der Verfolgung zu entkommen, wie Dr. Arthur Jacobsohn, der seit 1919 seine Praxis in Berlin Kreuzberg führte. Schwoch hat sein Leben nachgezeichnet. Nach 1938 arbeitete er als sogenannter „Krankenbehandler“. Ein „absurdes Konstrukt“, sagt Schwoch. Da arische Ärzte keine Juden versorgen durften, erlaubte man jüdischen Ärzten, sie als „Krankenbehandler“ zu versorgen. 1938 waren von den 8.000 jüdischen Ärzten nur noch 285 Krankenbehandler übrig. Jacobsohn, seine Frau und Tochter konnten in die USA fliehen. Dort arbeitete er am Mother Cabrini Hospital in Chicago. Auch andere flohen nach Amerika oder Israel, mussten aber oft ihre Examina noch einmal ablegen, um arbeiten zu können. „Und manche zerbrachen im Exil unter dem Verlust der Heimat und des Berufes“, sagt Raimund Dehmlow vom Hannoveraner Arbeitskreis.
Wenig Widerstand
Gab es unter den Ärzten in Deutschland Widerstand gegen die Rassengesetze und die furchtbaren Konsequenzen für die jüdischen Ärzte? „Wenig, wenig,“, sagt Schwoch. Außer unter Juristen waren auch unter Ärzten besonders viele Nationalsozialisten. Aber es gab Ausnahmen, zum Beispiel Georg Groscurth. Er war Oberarzt am Robert-Koch-Krankenhaus in Berlin und Mitgründer einer Widerstandsgruppe gegen Nationalsozialisten. Groscurth wurde 1943 verhaftet und im Mai 1944 ermordet.
Oder der Pharmakologe Otto Krayer. Er wollte den Ruf auf den Lehrstuhl der Medizinischen Akademie Düsseldorf nicht annehmen, weil dort der jüdische Kollege Phillip Ellinger als ‘Nichtarier’ entlassen worden war. Krayer empfand die Entlassung eines jüdischen Wissenschaftlers als „Unrecht“. Krayer und Ellinger überlebten den Krieg.
So auch die meisten, die unter den Nationalsozialisten in medizinische Ämter und Würden gekommen waren. Nach dem Krieg konnten sie weitermachen, als wäre nichts geschehen, schreibt Prof. Brigitte Lohff vom Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), im Begleitheft zum Denkmal im Hannoveraner Ärztehaus. Zum Beispiel in Kiel: Zwar hatten die britischen Behörden die "braunen" Ordinarien abgesetzt. Aber auf der ersten Sitzung der Medizinischen Fakultät beschlossen die Anwesenden, dass als Ersatz nur Stellvertreter berufen werden sollten, „da damit gerechnet wird, daß der größere Teil der suspendierten Collegen doch wieder in ihr Amt eingewiesen werden kann“, zitiert Lohff den Beschluss. So geschah es dann auch. Das „kollektive Schweigen“ über die Verstrickungen der Ärzteschaft in den Nationalsozialismus dauerte Jahrzehnte.
„Erst auf dem Gesundheitstag 1980 in Berlin, einer Alternativveranstaltung zum Ärztetag, forderte eine Gruppe von Ärzten, das Schicksal der jüdischen Kollegen zu bedenken“, berichtet Schwoch. Das war der Beginn einer Entwicklung, an deren aktuellen Endpunkt etwa der Hannoveraner Arbeitskreis steht. Man will das Thema „Ärzte im Nationalsozialismus“ nicht mit großen Veranstaltungen aufgreifen, sondern mit kleineren Aktionen vor Ort.
So entstand das Denkmal für Arno Berendt, Dora Gerson, Otto Bloch und die vielen anderen, berichtet Dehmlow: „Und deshalb veranstalten wir einmal im Jahr einen Rundgang zu den Grabstätten jüdischer Ärzte in Hannover. Denn die jüdische Gesundheitsfürsorge können wir ja nicht mehr zeigen. Es gibt sie nicht mehr, sie ist nicht mehr da.“