Der Lebensweg war eigentlich klar: Studium, Facharzt für Allgemeinmedizin, Anstellung als Hausarzt in einer Poliklinik, einem Ambulatorium oder einer staatlichen Praxis – alternativ als Betriebsarzt, in anderen Einrichtungen oder im öffentlichen Gesundheitsdienst. Beschränkte Aufstiegschancen zum Oberarzt oder Chefarzt in der ambulanten Betreuung, Zuverdienst durch „Z-Stelle“ mit fünf bis 15 Wochenstunden zusätzlich zum Hauptarbeitsverhältnis, als Betriebsarzt oder in Beratungsstellen etc. Ansonsten arbeiten bis zur Rente in den vorgegebenen Bahnen, aber auch ohne Ängste. Ärzte wurden gebraucht, wurden geschätzt. Wünsche und Sehnsüchte richteten sich auf Statussymbole wie etwa bessere Autos oder ein Eigenheim und in die versperrte Ferne.
Der Einigungsvertrag von 1990 riss dann wohl auch die Letzten aus ihren Träumen vom ungestörten Angestelltendasein als Hausarzt. Nur wenige würden nun weiter in staatlichen Einrichtungen beschäftigt bleiben. Es galt im Einzelfall noch eine Schonfrist für ältere Ärzte von bis zu fünf Jahren. Das bundesdeutsche System galt fortan auch bei uns. Die wenigen in eigener (weil von den Vorfahren überkommener) Praxis verbliebenen Privatärzte übernahmen sofort das Ruder und gründeten mit Unterstützung der Kassenärztlichen Vereinigungen aus den alten Bundesländern und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die entsprechenden Gremien, besetzten die Posten. Sie lagen schon im sicheren Hafen, als die Masse der Angestellten noch nach Kompass und Karte suchten.
Die einzige in der DDR existierende Vereinigung von Hausärzten war die Gesellschaft für Allgemeinmedizin mit ihren Untergliederungen in Bezirksgesellschaften und Kreisgruppen. Die Bezirksgesellschaften waren auch nach der Wende weitgehend intakt geblieben und handlungsfähig. So hatten wir schon im Frühjahr 1990 begonnen, unsere Kollegen durch Seminare auf die Bedingungen der Niederlassung vorzubereiten, vorwiegend mit Referenten aus dem Westen. Aber wer von ihnen konnte den Umsturz aller Werte so richtig verstehen und nachvollziehen?
Wenn sich gleichzeitig alle Rechtsnormen, die wirtschaftlichen Grundsätze und Bedingungen, die Verwaltungsstrukturen und auch die persönlichen Beziehungen bis in die Familien hinein ändern, so ist es schwer, Linie zu finden und sich durch die neuen Chancen, Risiken, Verlockungen und den Verlust an Stabilität einen Weg zu bahnen. So mancher mag sich ähnlicher Situationen des Orientierungsverlusts erinnern, aber alles auf einmal?
Unternehmerinnen und mithelfende Ehemänner
Da kann man eigentlich nur staunen! Ohne irgendeine Pause, ohne Beeinträchtigung der Patientenbetreuung stellten sich die Hausärztinnen und Hausärzte auf ein völlig anderes Arbeiten um. Ja, es waren überwiegend Hausärztinnen, in den Großstädten etwa 85 Prozent Frauen. In den ländlichen Gegenden gab es einen etwas höheren Anteil von Männern unter den Hausärzten, die ansonsten in den operativen Fächern stärker vertreten waren. Ein neues Berufsbild entstand in dieser heißen Zeit: der mithelfende Ehemann.
Abgeleitet ist die Bezeichnung von einer steuerlichen Kategorie bei Handwerkern, bei denen die Frauen als „mithelfende Ehefrauen“ den werkelnden Männern den Rücken frei hielten durch Präsenz am Telefon, Schriftverkehr und Buchhalten. Nun die Umkehr: Viele Ehemänner der Ärztinnen verloren als Ingenieure oder andere Fachleute der rasch sterbenden Industrie ihre Arbeit und fanden sich als Akteure der Beschaffung und Wirtschaftsführung, als Chauffeure, ja zum Teil sogar hinter dem Tresen in den Praxisbetrieb ihrer Frauen eingebunden. Aber die Hauptlast lag bei den frisch gebackenen „Unternehmerinnen“.
Sie mussten nun neben der weniger tangierten Patientenbetreuung die Praxis neu organisieren, Computer lernen, Finanzgeschäfte eingehen, Verträge schließen und neue Gesetze und Vorschriften lernen. Es gab viele Berater. Deren Motive waren unterschiedlich: von altruistisch bis hin zu sehr eigennützlich. Da blick mal einer durch – die hatten ja gelernt zu überzeugen! Seitens des Verbandes, der aus den Strukturen der Bezirksgesellschaften heraus neu gegründet wurde, haben wir gesiebt, Spreu vom Weizen getrennt. Manche Freundschaft aus dieser Zeit hält noch heute.
Einige Pharmaunternehmen unterstützten den Prozess der Orientierung an Wirtschaftlichkeit und die neue Praxisführung durch Seminare. Auch fachliche Fortbildung wurde angeboten oder die von uns konzipierte gefördert. Der Berufsverband der praktischen Ärzte (BPA) und der Fachverband deutscher Allgemeinärzte (FDA), NAV und Hartmannbund wollten uns von ihrer Meinung überzeugen: Der bundesdeutsche Konkurrenzkampf wurde auf das „Neuland“ übertragen und trieb Blüten wie den Konkurrenzkampf im BPA zwischen Baden-Württemberg und Bayern um Sachsen.
Eine Flut von Zeitschriften stürzte in unsere Praxen. Verlockende Einladungen für Wochenendausflüge und Events erfüllten den Traum von der grenzen-losen Reisefreiheit, boten Entspannung und ein Forum zum kollegialen Austausch. Wir mussten lernen, vor allem selbstbewusst aufzutreten. Denn wir waren zur Bescheidenheit erzogen, und die geriet schnell aus der Mode, passte nicht ins System.
Konkurrenzkampf begann
Ein bisschen Weinen um Verlorenes darf man aber auch: Mit dem System der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin ging es ein Stück bergab. Die obligate Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin als Vor aussetzung der Praxistätigkeit auch in staatli chen Einrichtungen, also als angestellter Arzt, und die völlige Gleichstellung der Facharzt disziplinen waren in Gefahr. Eine Fachgruppe weigerte sich, Ärzte in Weiterbildung für Allgemeinmedizin wie bisher in ihren Praxen hospitieren zu lassen – es begann der Konkurrenzkampf.
Und leider, da künftig die Patientenzahl über das Einkommen entscheiden würde, auch die Konkurrenz der Allgemeinmediziner untereinander. Die Gemeinsamkeit begann zu bröckeln. Kinderärzte, Chirurgen und viele andere ließen sich jetzt als „Praktische Ärzte“ nieder. Betriebsärzte (meist Allgemeinmediziner) wurden „freigesetzt“ und drängten in den Markt. All das waren neue Erscheinungen, Belastungen, Unsicher heiten, die hinzukamen.
Demonstrativ haben wir daher in Sachsen den „Sächsischen Berufsverband der Fachärzte für Allgemeinmedizin“ gegründet und uns nicht den „Praktischen Ärzten Deutschlands“ angeschlossen. Die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin leitete bisher die zentrale Fachkommission Allgemeinmedizin bei der Akademie für Ärztliche Fortbildung in Berlin – inhaltlich wie organisatorisch. Dies wurde dem Zentralismus entsprechend in den unteren Ebenen fortgesetzt: Die Bezirksfach kommissionen nahmen die Prüfungen ab, der Kreisfachkommission oblag vor allem die Organisation vor Ort. Weiterbildungsleiter erhielten Anleitung, trafen sich regelmäßig mit den Assistenzärzten zu Seminaren und Vorgesprächen vor dem Facharztkolloquium.
Die Ärzte waren alle für die gesamte Weiterbildungszeit angestellt in einer Einrichtung, Poliklinik oder Krankenhaus. Dort wurden sie also auch bezahlt und zu den einzelnen Weiterbildungsabschnitten delegiert, teils durch den Weiterbildungsleiter, teils auf eigene Initiative innerhalb des fachlichen Spielraums, den die Weiterbildungsordnung ihnen bot.
1990 kam alles in Bewegung: Die Anstellung entfiel, die Weiterbildungsleiter privatisierten sich und waren mit sich beschäftigt, die Fachkommissionen wurden aufgelöst, die Kolloquien an die Landesärztekammern ver lagert, die sich auch eben in Gründung be fanden. Persönliche Bindungen hielten noch, ließen die jungen Ärztinnen und Ärzte nicht völlig in ein Loch fallen – aber die Niederlas sung als praktischer Arzt war einfacher, sicherte schneller die künftige Existenz.
Hausarztunfreundliche Kliniken
Es dauerte Jahre, bis der Ärztetag in Eisenach die obligate dreijährige Fortbildung be schloss, weitere Jahre, bis daraus fünf Jahre wurden, und noch länger, bis allmählich Verbundweiterbildungen das diskriminie rende System der Anbiederung bei haus arztunfreundlichen Kliniken ersetzten. Da scheinen wir angekommen, wo wir vor 25 Jahren waren – natürlich unter ganz anderen Prämissen, aber einige Ideen wurden weiter entwickelt und beleben das heutige System.
Der Ansatz der Polikliniken schwingt auch in Medizinischen Versorgungszentren und Ärztenetzen mit. Wie einst die Gehaltsemp fänger profitieren Hausärzte heute von einer pauschalierten Vergütung ihrer Leistungen, die sie weniger abhängig von der Einzelleis tungsvergütung macht. Statt einer „obligatorischen“ staatlich gelenkten Fortbildung, gibt es eine hausarztgemachte Industrieunabhängigkeit. Was einst die Gemeindeschwester war, wurde neu gedacht und weiterentwickelt zur qualifizierten Medizinischen Fachangestellten. Erstmals gibt es mit VERAH® nun eine MFA, die besonders für die Unterstützung von Hausärzten ausgebildet ist. Die Chance des gegenseitigen Lernens wurde vor 25 Jahren ein wenig verschlafen. Wir holen einen Teil nach, die Not macht’s nötig, damit Hausärzte weiter in ihrem Beruf Zufriedenheit und eine Lebenspers pektive finden.
Ein Hauch von persönlicher Bitternis: Mit dem Einigungsvertrag schloss die „Akademie für ärztliche Fortbildung“ der DDR ihre Pforten, weil sie nicht mehr ins bundesdeutsche System passte: der bisherige Motor der all -gemeinmedizinischen Weiter- und Fortbildung, Sitz der zentralen Fachkommission Allgemeinmedizin und des einzigen Lehrstuhls im Fachgebiet. Die schon begutachteten Habilitationsschriften verschwanden in der Schublade, so von Hanno Grethe, mir und anderen. Hochschulperspektive perdu. Zum Trauern blieb keine Zeit!
Neben der Praxisgründung und der Existenzsicherung erforderten Gesellschafts- und Verbandsgründung die letzten freien Stunden. Immerhin wurden noch alle 15 mit dem Forschungsprojekt verbundenen Promotionen erfolgreich abgeschlossen. „Arbeitsinhalt und Arbeitsweise von Fachärzten für Allgemeinmedizin“ lautete das Thema – letztmalig in einem System untersucht, in dem der Arzt unabhängig war von der Leistungsabrechnung, von der Wirtschaftlichkeit seiner Gesundheitseinrichtung.
Rückwirkend lässt sich belegen, dass Pauschalierung in extremster Form (Gehaltsempfänger) Leistung für den Patienten nicht behindert. Alle Zeit war für die Patientenbetreuung da. Ob das auch nach dem „Durchgangssyndrom“ durch die Einzelleistungsabrechnung noch stimmt, lässt sich daraus nicht schließen. Zu sehr hat die Ökonomie inzwischen ärztliches Handeln geprägt, teils dominiert.
Grundsätzliche Probleme der Wirtschaftlichkeit, Bürokratie, Kontrollitis-Seuche, Geringschätzung der hausärztlichen Betreuung in den Gremien der innerärztlichen „Selbstverwaltung“ haben wir nun gemeinsam. Aber es gibt noch Unterschiede, die aus den geschichtlichen Wurzeln erwachsen. Doch die gibt es nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Westfalen und Bayern. Gut so! Das belebt das Geschäft, das birgt auch Chancen, und ein bisschen Heimatstolz auf das Geleistete sei gestattet.
Die Wendezeit war eine harte Prüfung, die Hausärztinnen und Hausärzte hervorragend gemeistert haben und die sich auch für den Einzelnen gelohnt hat. Zurück? Nein, danke! Aber warum nicht ein wenig voneinander und aus der Geschichte lernen?
Wie haben Sie die Wende erlebt? Schreiben Sie uns an info@medizinundmedien.eu!
Zur Person: Dr. Diethard Sturm
Studium der Humanmedizin in Leipzig und Dresden, langjährige hausärztliche Tätigkeit in staatlichen Gesundheitseinrichtungen der DDR, von 1991 bis 2010 in eigener Praxis niedergelassen. Seit April 2010 privatärztliche Praxis. 1990 Gründungsmitglied und Vorsitzender des „Sächsischen Verbandes der Fachärzte für Allgemeinmedizin“, weiter in den Nachfolgeverbänden zum „Sächsischen Hausärzteverband“ bis 2005, seit 2011 Ehrenvorsitzender. 1999 bis 2007 stellv. Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes bzw. BDA. 2001 Gründungsmitglied und Vorstandsmitglied des Instituts für haus-ärztliche Fortbildung im Deutschen Hausärzteverband, von 2005 bis 2009 Vorsitzender des Instituts. Bis heute als Referent aktiv.