Fehlerbericht #791: “Ein Patient rutscht durchs System”
Durch eine Verkettung vieler Ereignisse und einen großen Fehler rutschte uns ein Patient in unserem System durch.
Was ist passiert?
Bei dem Patienten sind folgende Diagnosen bekannt: Diabetes mell. Typ 2, Pneumonie, Hepatitis C. Aufgrund dieser Diagnosen sind einige Blutentnahmen erforderlich und mehrere Recalls (vierteljährlich und jährlich) gesetzt. Ende des Jahres wurde auch noch die Diagnose Polyarthritis gestellt und mit einer MTX Therapie begonnen. Laut unserem Standard wurde ein „Bäpper“ (Turbomed) mit fogenden Kontrollen gesetzt: Fünf Mal 14-tägig, dann einmal monatlich. Dann wurde aber vergessen, die Recalls zu setzen. Das erste Mal fiel die fehlende Blutentnahme auf, als der Patient sich nach seinem Röntgenbefund erkundigen wollte. Die MFA trägt den Patienten in unsere Rückrufliste ein und weist den Arzt auf die bevorstehende Blutentnahme hin. Arzt spricht mit dem Patienten über den Röntgenbefund, vergisst aber den Patienten auf die bevorstehende Blutentnahme hinzuweisen, ein Recall wurde nicht gesetzt. Unserer neuen Kollegin fiel auf, beim Bearbeiten der jährlichen Recalls, dass der Patient keine Blutentnahme bekam. Sie dachte aber, das muss noch geklärt werden. Es wurde wieder kein Recall gesetzt. Letztendlich wurde erst vier Monate später eine Blutentnahme gemacht.
Was war das Ergebnis?
Für den Patienten: fehlende Blutentnahmen, fehlende Kontrolle des BB und eventuelle BB Veränderungen fielen nicht auf.
Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?
Es wurde kein Recall gesetzt und auf dem Desktop befanden sich sehr viele Bäpper. Vielleicht zu undurchsichtig auch für neue Kollegen!
Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?
Darauf achten, dass Recalls gleich gesetzt werden.
Um das Risikomanagement in der eigenen Praxis zu fördern, muss man besonders darauf achten, spezifische Risikogruppen in den Blick zu nehmen und für diese besonders zu sorgen. Der hausärztliche Sachverstand würde zunächst sagen: Multi-morbide Patienten sind häufiger in der Praxis präsent, damit öfter Fehlerquellen ausgesetzt, haben komplexere Probleme, die häufiger zu kritischen Ereignissen führen können, und sind schließlich empfindlicher, vulnerabler, wenn etwas schief geht. Das sind unbedingt zu berücksichtigende Faktoren.
Allerdings ist unklar, ob sie sich in der Praxis so auswirken. Bei der Beurteilung der Versorgungsqualität (also, ob zum Beispiel Patienten mit Diabetes und einer zusätzlichen Komorbidität leitliniengerecht medikamentös behandelt wurden) muss eine schlechtere Qualität nicht unbedingt auftreten, weil unter anderem mehr Augen auf die Medikation schauen [1]. Trotzdem können patientenbezogene Ergebnisse bei multimorbiden Patienten durchaus schlechter sein.
Um dieser Frage nach der Patientensicherheit auf den Grund zu gehen, hat eine Arbeitsgruppe um Peter Bower (Manchester) die hochwertigste Methode gewählt, nämlich eine systematische Übersichtsarbeit über vorhandene klinische Studien zu erarbeiten [2]. Da adverse events (unerwünschte Ereignisse) ohnehin schlecht berichtet werden, war dies eine besondere Herausforderung. Dennoch konnten 75 Studien nach einer umfassenden Recherche einbezogen werden. Es war tatsächlich möglich, die berichteten Ergebnisse im Sinne einer Meta-Analyse systematisch auszuwerten. Dabei unterschieden die Forscher zwischen Beinahe-Fehlern (precursors of safety incidents) und tatsächlichen Fehlern (active safety incidents).
Die Arbeitsgruppe stellte fest, dass Patienten mit (physischer) Multimorbidität ein höheres Risiko haben (Odds Ratio {OR} 1,63), tatsächlich einen Fehler zu erleben; Unterschiede in den Qualitätsproblemen (precursor), die einen solchen Fehler provozieren könnten, waren jedoch nicht signifikant. Ganz anders war es bei multimorbiden Patienten, die eine psychische Diagnose (zum Beispiel Depression) hatten. Dort waren kritische Ereignisse (OR 2,39) und auch Beinahe-Fehler (OR 1,69) signifikant häufiger. Dieses Ergebnis müssen wir im Hinblick auf die Patientensicherheit interpretieren:
- Sicher sind Patienten mit Multimorbidität öfter in der Praxis präsent und damit auch möglichen Fehlerquellen ausgesetzt.
- Offenbar werden sie allerdings auch häufig als solche erkannt und zum Beispiel leitliniengerechter versorgt (das lässt sich noch steigern).
- Patienten mit Multimorbidität und zusätzlichen psychischen Problemen sind nach den Ergebnissen eine Risikogruppe, die wir besonders fokussieren müssen.
Insgesamt ist also nicht die Multimorbidität an sich das Hauptproblem bei der Patientensicherheit, sondern besonders vulnerable Gruppen. Das nebenstehende Fallbeispiel von einer MFA verdeutlicht, wie leicht in der Routine gerade bei Multimorbidität ein Patient „durch das System rutschen“ kann. Wie minimieren Sie die Fehlerquellen bei der Behandlung multimorbider Patienten? Welche Abläufe haben Sie entwickelt oder gab es Fortbildungen, die Sie empfehlen können? Berichten Sie auf www.jeder-fehler-zaehlt.de über Ihre Erfahrungen!
Literatur:
-
- Ricci-Cabello I, Valderas JM et al. Impact of multi-morbidity on quality of healthcare and its implications for health policy, research and clinical practice. A scoping review. EurJGP, 2015; 21:192-202
-
- Panagioti M, Stokes J, Esmail A, Coventry P, Cheraghi-Sohi S, Alam R, et al. (2015) Multimorbidity and Patient Safety Incidents in Primary Care: A Systematic Review and Meta-Analysis. PloS ONE 10(8): e0135947. doi:10.1371/journal.pone.0135947