Die im Dunkeln – wir sehen sie auch. Aus einer Sprechstunde, ähnlich der eines Hausarztes, für Menschen ohne Krankenversicherung: Fünf ehrenamtlich tätige Hausärzte im Ruhestand, unterstützt durch einen Pädiater und eine Gynäkologin, betreiben seit acht Jahren im Stuttgarter Süden eine ärztliche Sprechstunde. Die Malteser Migranten Medizin Stuttgart (MMM) wird durch eine Praxisstruktur organisiert. Deren Anliegen ist es, bei medizinischen Notfällen für Menschen ohne Krankenversicherung einen niederschwelligen Zugang zur Versorgung zu leisten.
Jenseits der großen Zahl an registrierten Flüchtlingen, die mit ihrer Erfassung Anspruch auf Zugang zur „Regelversorgung“ erhalten, gibt es eine kleine Zahl von in Deutschland Erkrankten, die keinen Versicherungsschutz besitzen. Die deutliche Mehrheit, rund 80 Prozent, unserer Patienten sind Ausländer. Das Spektrum der Behandlungen ähnelt dem einer stadtnahen Landpraxis, die ich als Allgemeinmediziner 36 Jahre lang geführt habe. Es reicht von banalen Befunden bis hin zu Erkrankungen mit akut vitaler Gefährdung. In einigen Punkten gibt es allerdings Unterschiede (s. Tab. 1 im PDF).
Obwohl die für die beiden Strukturen beschriebenen Charakteristika sehr unterschiedlich ausfallen, schließen sie sich bezüglich des Einzelfalls nicht unbedingt gegenseitig aus. Die zwei folgenden Kasuistiken beschreiben das für MMM-Patienten sehr typische Krankheitsspektrum mit entsprechenden Verläufen (vgl. 4 und 5 in der Tabelle). Sie können zeigen, wie soziale Umstände und Globalisierung sich in den Krankheitsbildern von Patienten mit Migrationshintergrund spiegeln, die wir in unseren Praxen sehen.
Kasuistik 1
Anamnese: Eine von der Stadt geförderte mobile Ambulanz weist uns einen 52-jährigen Rumänen zu. Er gibt an, sich in Stuttgart aufzuhalten, um nach einer Arbeit zu suchen. Einen sicheren Wohnsitz hat er hier nicht. Falls er Erfolg hätte, wolle er nach Rumänien zurückreisen, um „das mit den Papieren“ zu regeln, erzählt er. Nach Abnahme der beiden Unterschenkelverbände zeigt sich an beiden Unterschenkeln distal des Kniegelenkes und an beiden Füßen eine massive Erythrodermie. Die krustösen, übel riechenden Auflagerungen werden distal der Knöchelregion etwas weniger, nahmen aber an den Vorfüßen wieder zu. Heftigste Interdigitalmykosen, Hyperkeratosen mit tiefen Rhagaden der Fußsohlen.
Therapie: Wir behandelten unter der Vorstellung eines superinfizierten mykotischen Ekzems mit Doxycyclin (vier Tage 200mg/d, danach 100mg/d), Decoderm Tri Creme und rezeptierter Rivanol Lösung (0,1 Prozent) für tägliche Fußbäder und Verbandsmaterial. Der Patient sollte zweimal pro Tag für eine halbe Stunde seine Füße baden.
Kommentar
Die Erythrodermie entwickelte sich sehr günstig. Was war der Schlüssel? Nach der Anamnese und Erstversorgung in der MMM-Sprechstunde war für uns klar: Die Lebenslage des Patienten erfordert nicht ein rein medizinisches, sondern auch ein soziales Herangehen. Eine Genesung wäre ohne die täglichen Fußbäder nicht möglich gewesen – ohne festen Wohnsitz war aber die tägliche Hygiene kaum gewährleistet. Entscheidend war also, dass wir den Patienten an die Caritas vermittelt haben, die ihm Platz in einer Unterkunft zur Verfügung stellte. Die Unterbringung setzte ein ärzli-ches Attest und einen Betreuer voraus, den wir bei einer mit uns kooperierenden Organisation anfragten.
Kasuistik 2
Anamnese: Ein 39-jähriger Angolaner gibt an, vor 14 Tagen mit Halsweh erkrankt zu sein. Im Gespräch in der Praxis klagt er über Schüttelfrost, Thoraxschmerzen links und Blutfäden im Sputum. Aktuelle Temperatur 36,9 Grad Celsius.
Befund 1: Auskultatorisch bestanden feinblasige Rasselgeräusche über der Lunge links. Der durchtrainierte Mann hatte einen RR 110/70 mmHg, Puls 70/min. Im Labor waren pathologisch: CRP 157 mg/l; SGPT 95 U/L; yGT 259 U/l; kl. BB mit Thrombo normal. Röntgen: Pneumonie Oberlappen li., Segmente 4 und 5. Bei Kontrolle nach drei Wochen: Noch Pleura-verdickung ventrobasal links, Pneumonie abgeklungen. HIV-Test negativ.
Therapie: Behandelt wurde über drei Wochen mit zweimal 500 mg Clarithromycin. Abgesehen von einer dreitägigen Fieberepisode bei eitriger Tonsillitis bestand nach zwei Monaten wieder Belastbarkeit und Wohlbefinden.
Befund 2: Drei Monate später trat eine Thrombophlebitis am rechten Unterschenkel auf.
Therapie: Sie bildete sich unter lokaler Therapie mit Kompressionsstrumpf und Hepathrombin 50.000 Salbe innerhalb von drei Wochen zurück.
Anamnese 3: Ein halbes Jahr später sahen wir den Patienten wieder. Er klagte über geschwollene Beine und Völlegefühl. Befund: 100 kg (12 kg über gewohntem Gewicht); 120/90 mmHg, tachycard. Massive Beinödeme mit Scrotalödem beidseits. Leber palpatorisch 3 cm, derb, dolent. Milz nicht tastbar. Klassisches „Caput Medusae“. Lunge frei. Labor: Im Urin Protein, Ubg. und Bili. stark erhöht. Hb 11,0; CRP 96 mg/l; SGOT 98 U/l; yGT 341 U/l; alk. Phosphatase 372 U/l. Nieren-, Gerinnungswerte und Elektrolyte im Normbereich. Wir wiesen ihn in eine Klinik ein, die ihn 16 Tage stationär versorgte. Es ergaben sich diese Diagnosen:
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Komplette Thrombose der Vena cava inferior bis in den rechten Vorhof mit ausgedehnten Umgehungskreisläufen sowie Thrombose der Lebervenen. Budd-Chiari-Syndrom.
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Ösophagusvarizen Grad II-III; Setzen von vier Ligaturen im distalen Ösophagus.
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Chronische Hepatitis B mit geringer Viruslast (HBV DNA 227 IU/ml).
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Ausschluss Tbc
Therapie: Bei der folgenden ambulanten Betreuung wurde mit Spironolacton, Torasemid und Carvedilol eine Stabilisierung erreicht. Die Kontrollgastroskopie nach acht Wochen zeigte nur noch „minimale Varizen I. Grades im mittleren Ösophagus“. Nach dem Klinikaufenthalt nahm der Patient unter unse-rer Betreuung weitere sechs Kilo ab. Er hat gelernt, mit +/-50 mg Spironolacton und +/-10 mg Torasemid sein Gewicht zu halten.
Kommentar
Heute habe ich den dringenden Verdacht, dass es sich bei der „Pneumonie“ um eine Lungenembolie und bei der „Thrombophlebitis“ um eine Unterschenkelthrombose gehandelt hat. Wäre die Krankheit in einer „normalen“ Praxis ebenso verlaufen? Sicher wäre bei häufigeren Kontrollen eher eine Einweisung erfolgt. Es stellt sich die Frage, ob Differentialdiagnosen zur Pneumonie genug bedacht wurden. Angesichts Puls-, Blutdruck- und Fieberwerten wäre ein Zweifel angebracht gewesen. Abgelenkt haben vermutlich die erhöhten Leberfermente infolge einer chronischen, aber weitgehend ausgeheilten Hepatitis B.
Wie ging es weiter?
Nachdem ein Kontakt zur Ausländerbehörde hergestellt war, gelang es, den lange bestehenden „irregulären Aufenthaltsstatus“ zu beenden. Dieser hatte sich ergeben, nachdem die Ex-Frau samt Kind nach Norwegen gezogen war. Der Vater besaß auch ein Sorgerecht und hatte geglaubt, von Deutschland aus den Kontakt zum Kind besser halten zu können. Heute lebt er wieder in Angola und arbeitet mit einer von hier importierten gebrauchten Asphaltiermaschine im Straßenbau.
Malteser Migranten Medizin
In der Malteser Migranten Medizin (MMM) finden Menschen ohne Krankenversicherung einen ehrenamtlichen Arzt, der die Erst- und Notfallversorgung bei plötzlicher Erkrankung, Verletzung oder einer Schwangerschaft übernimmt. Die Patienten verfügen entweder über keinen legalen Aufenthaltsstatus und wollen anonym bleiben oder sind aus anderen Gründen nicht (mehr) versichert. Bundesweit gibt es die MMM in 14 Städten. Seit der Gründung 2001 wurde mehr als 100.000 Menschen geholfen. 1.400 Kinder erblickten das Licht der Welt. Häufige Gründe, die Anlaufstellen aufzusuchen, sind Schwangerschaft, Unfallfolgen, akute Zahn-erkrankungen, Tumorerkrankungen sowie Infektionskrankheiten. Patienten sind im Schnitt deutlich schwerer erkrankt als in einer normalen Arztpraxis. Die Hilfe wird allein aus Spenden finanziert. Dank der Hilfe von Fachärzten und Kliniken sind Behandlungen oft ohne Bezahlung oder gegen geringeres Entgelt möglich.
Malteser Spendenkonto: Malteser Hilfsdienst e.V., Pax Bank, IBAN: DE10370601201201200012, BIC / S.W.I.F.T: GENODED1PA7, Stichwort: „Migranten Medizin MMM“ www.malteser-migranten-medizin.de