Die Zulassung von Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban und Edoxaban stützt sich jeweils auf nur eine große klinische Multicenter-Studie. Belegt wurde darin für jede Substanz einzeln die Nicht-Unterlegenheit gegenüber dem VKA Warfarin. Gibt es inzwischen eine breitere Evidenzbasis?
Wille: Bislang liegen keine Studien vor, in denen die Ergebnisse der Zulassungsstudien auf Reproduzierbarkeit geprüft wurden. Auch Head-to-head-Vergleiche zwischen den einzelnen Vertretern der neuen Wirkstoffklasse gibt es nicht. Die Zulassungsstudien weisen zwar keine gravierenden methodischen Mängel auf, aber man darf nicht außer Acht lassen, dass Dabigatran offen mit Warfarin verglichen wurde. Die Frage ist jedoch bei allen vier Studien, inwieweit die Ergebnisse auf die deutsche Versorgungssituation übertragbar sind.
Wie haben die NOAKs im Vergleich zu Warfarin abgeschnitten?
Wille: Als primärer Endpunkt war die Kombination aus Insult (ischämisch oder hämorrhagisch) und systemischem embolischen Ereignis definiert. Hier erwiesen sich alle NOAKs als nicht unterlegen. Signifikant war die Verringerung des primären Endpunkts nur unter der 150-mg-Dosis von Dabigatran sowie unter Apixaban. Bemerkenswert ist, dass die Zahl intrakranieller Blutungen unter den NOAKs durchgehend nur etwa halb so hoch war wie in den Warfarin-Armen. Allerdings sind die Unterschiede absolut betrachtet nur gering.
Heißt das, dass der in einigen Studienarmen beobachtete Vorteil der NOAKs bei der Zahl der Schlaganfälle nicht auf der Verhinderung embolischer Hirninfarkte, sondern auf der geringeren Rate intrakranieller Blutungskomplikationen beruht?
Wille: Die Prävention von Schlaganfällen bei Vorhofflimmern hat primär das Ziel, ischämische Insulte zu verhüten. In den NOAK-Studien konnte nur die hohe Dabigatran-Dosis diese Ereignisse im Vergleich zu Warfarin signifikant verringern. Im Studienarm mit der niedrigen Dabigatran-Dosis und den anderen Studien beruhte eine Verringerung der Schlaganfälle tatsächlich nur auf der geringeren Rate hämorrhagischer Schlaganfälle.
Ein Kritikpunkt an den NOAK-Studien ist die mäßige Qualität der INR-Einstellung in den Warfarin-Armen. Könnte das erklären, warum unter Warfarin mehr intrazerebrale Blutungen auftraten?
Wille: Als Standard für eine gute Therapieführung mit VKAs gilt eine mediane TTR von mindestens 70 Prozent. TTR steht für Time in Therapeutic Range, also die Zeit, in der der INR-Wert im Zielkorridor zwischen 2 und 3 liegt. Tatsächlich wurden unter Warfarin in den NOAK-Studien nur mediane TTR-Werte zwischen 58 und 68 Prozent erreicht. Aus Registerstudien wie AURICULA oder PREFER in AF weiß man, dass in der Praxis TTR-Werte über 70 Prozent möglich sind. Man kann zwar Registerstudien nicht mit Zulassungsstudien vergleichen, aber Registerdaten weisen darauf hin, dass bei guter INR-Kontrolle mit VKAs ähnlich niedrige Raten an schweren Blutungen und auch intrazerebralen Blutungen möglich sind wie unter NOAKs (Tab. 1).
In welcher Größenordnung liegen die Vorteile, die sich für NOAKs ergeben haben, wenn man sie in absoluten Zahlen ausdrückt? Wie viele Patienten mussten ein Jahr lang behandelt werden, um einen primären Endpunkt oder eine Hirnblutung zu verhindern?
Wille: Die NNT, also die Number Needed to Treat, um einen primären Endpunkt zu verhindern, betrug für zweimal täglich 150 mg Dabigatran rund 170. Mit Apixaban mussten sogar etwa 300 Patienten ein Jahr behandelt werden, um eine Person vor einem Endpunktereignis zu bewahren. Um eine Hirnblutung zu verhindern, mussten mit Rivaroxaban etwa 500 Patienten ein Jahr lang behandelt werden, mit den anderen Substanzen jeweils etwa 200.
Als großer Vorteil für die Praxis wird angesehen, dass unter Therapie mit NOAKs keine Kontrollen des Gerinnungsstatus bzw. von Blutspiegeln nötig sind. Ist das aus pharmakologischer Sicht sinnvoll?
Wille: In der Zulassungsstudie für Dabigatran wurden bei einem Teil der Patienten die Plasmaspiegel gemessen. Dabei stellte man eine außerordentlich große interindividuelle Schwankungsbreite fest. So lag die Konzentration unter zweimal täglich 150 mg bei der 90. Perzentile etwa um den Faktor fünf höher als der Spiegel bei der 10. Perzentile. Wie die Originalgrafik aus einer Folgeauswertung der RE-LY-Studie zeigt (Abb. 1) zeigt, erreichte die Abnahme der primären Endpunkte (blauer Bereich) zu höheren Plasmaspiegeln hin sehr schnell ein Plateau, während die Zahl der Blutungen (roter Bereich) deutlich stieg. Dieser scherenartige Verlauf ist auch für die INR-Werte unter VKAs beschrieben. Die für Dabigatran ermittelten Kurvenverläufe legen nahe, dass sich durch Überwachen der Wirkspiegel bzw. eines geeigneten Gerinnungsparameters das Nutzen-Risiko-Verhältnis für diesen Wirkstoff verbessern ließe.
Gibt es inzwischen Studien zur Frage, ob bei KHK-Patienten, die wegen Vorhofflimmerns ein NOAK erhalten, auf ASS verzichtet werden kann? Wie sieht es mit der dualen Plättchenhemmung nach Stent-Einlage aus, wenn zusätzlich ein NOAK genommen wird?
Wille: Wenn mit VKAs behandelt wird, ist gut belegt, dass man bei stabilen KHK-Patienten auf ASS verzichten kann. Ob auch unter NOAKs auf ASS verzichtet werden darf, ist nicht ausreichend geprüft. Ebenso wenig gibt es belastbare Evidenz dafür, dass nach Einlegen eines Stents die NOAKs genauso eingesetzt werden können wie ein VKA. Ich halte es für riskant, wenn aus den Erkenntnissen mit VKAs einfache Analogieschlüsse für NOAKs gezogen werden.
In jeder Praxis gibt es Patienten, die sich trotz guter Compliance schwer auf VKAs einstel- len lassen. Sind NOAKs für sie eine Alternative?
Wille: Es erscheint plausibel, solche Patienten auf NOAKs umzustellen. Aber auch hierfür fehlt die Evidenz, denn bislang gibt es keine Studie, die gezeigt hätte, dass genau diese Patienten unter NOAKs besser fahren. Eine plausible, aber ebenso wenig evidenzbasierte Alternative zu VKAs sind NOAKs, wenn keine INR-Kontrollen durchführbar sind oder absolute Kontraindikationen für VKAs vorliegen.
Wie lässt sich die Einstellung auf VKAs, Stichwort TTR, in der Praxis optimieren?
Wille: Das gelingt u. a. mit der Selbstmessung der INR-Werte, die allerdings nur für 10 bis 20 Prozent der Patienten praktikabel ist. Ferner kann eine besser strukturierte Versorgung der antikoagulierten Patienten die TTR sicherlich steigern. So führt eine computergestützte Berechnung der VKA-Dosis anhand von Algorithmen zu einer besseren Einstellung als die bei uns verbreitete manuelle Anpassung. Schließlich müsste die Therapie mit VKAs durch eine höhere Vergütung gefördert werden. Eine VKA-Therapie ist eben aufwendiger als die Verordnung eines NOAKs.
Das Gespräch führte Dr. med. Ulrich Scharmer mit Dr. med. Hans Wille, Facharzt für Innere Medizin und Klinische Pharmakologie und leitender Oberarzt am Institut für Klinische Pharmakologie, Klinikum Bremen-Mitte. Wille ist ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ).