Das kanadische Gesundheitssystem ist wie in Deutschland in einen ambulanten und einen stationären Sektor aufgeteilt, berichtete Dr. Lisa Ulrich vom Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität in Frankfurt. Im ambulanten Bereich arbeiten Ärzte in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen. Rund 52 Prozent der kanadischen Ärzte sind family physicians (Hausärzte). 40 Prozent aller kanadischen Ärzte sind 55 Jahre oder älter. Wie in Deutschland steigt der Anteil an Hausärztinnen, so sind 65 Prozent aller family physicians unter 35 Jahre weiblich.
Kanada hat ein steuerfinanziertes, staatliches Gesundheitssystem, in dem die Bürger (kosten-)freien Zugang zu medizinischer Basisversorgung haben. Um die 2000er Jahre stieg das Bewusstsein für die Schnittstellenproblematik zwischen ambulantem und stationärem Sektor, den wachsenden Gesundheitskosten und dem Mangel an hausärztlichem Nachwuchs. Mehrere Gesundheitsreformen führten zu einer Stärkung der Allgemeinmedizin/Familienmedizin, unter anderem durch finanzielle Förderung neuer Versorgungsmodelle. Jüngstes Beispiel der Gesundheitsreformen sind die Family Health Teams in der Provinz Ontario. In diesem neuen Versorgungsmodell wurden nicht nur Vergütungsstrukturen angepasst und zu der bisher vorherrschenden Einzelleistungsvergütung zusätzlich Kopfpauschalen und Qualitätszuschläge eingeführt, sondern auch weitere Gesundheitsprofessionen in die Primärversorgung im Sinne eines multiprofessionellen Teams integriert.
Eine wissenschaftliche Begleitevaluation hat gezeigt, dass dieses Versorgungsmodell für Patienten, aber auch für die Teammitglieder Vorteile bringt. Family Health Teams sind je nach lokalem Bedarf anders zusammengesetzt. In manchen Regionen gibt es viele Familien mit Kleinkindern, dort liegt der Fokus mehr auf Pädiatrie und Neugeborenenversorgung. In Regionen mit vielen älteren Menschen liegt der Fokus dagegen auf speziellen Angeboten für Senioren und der Versorgung chronischer Erkrankungen.
Kanada setzt auf Family Health Teams
Zum Nutzen der Patienten arbeiten die Family Health Teams sehr eng mit anderen Gesundheitseinrichtungen und lokalen Institutionen zusammen, beispielsweise den örtlichen Sozialdiensten. Die Family Health Teams arbeiten mit einem Einschreibesystem, in das Patienten sich eintragen. So wird die Bindung des Patienten an ihr Versorgungsteam und die Kontinuität der Versorgung gestärkt.
Wie sieht so ein Team aus?
Das Team ist multiprofessionell; auch der Patient wird als Teammitglied begriffen (s. Abb. 1). Zur Verfügung stehen neben dem Arzt u.a. Pflegekräfte, Ernährungsberater, Psychologen und Pharmazeuten.
Der Großteil der 184 Family Health Teams in Ontario sitzt jeweils als Team zentral unter einem Dach zusammen. An einer gemeinsamen Rezeption werden Patienten aufgenommen und Termine koordiniert. Die Rezeption erteilt Auskunft darüber, ob beim gewünschten Behandler ein Termin frei ist, oder bei wem alternativ ein Termin möglich wäre. Ziel ist, dass die Patienten möglichst noch am selben Tag einen Termin bekommen, auch wenn dieser nicht immer bei ihrem Hausarzt sein kann. Informationsverluste entstehen dadurch keine, da jedes Teammitglied über eine gemeinsame elektronische Patientenakte sehen kann, wie die bisherige Versorgung des Patienten verlief.
Alle im Health-Team arbeitenden Professionen haben eine akademische Ausbildung und mindestens einen Bachelor-Abschluss. Ein wichtiges Teammitglied sind die sogenannten Nurse Practitioners. Sie sind speziell ausgebildete, examinierte Pflegekräfte (mit Master-Abschluss), die innerhalb des Teams eigene Sprechstunden anbieten und ausgewählte Aufgaben eigenverantwortlich durchführen können. Die Aufgabendelegation ist einerseits aufgrund der fachlichen Ausbildung der Nurse Practitioners, andererseits aber auch durch eine klare rechtliche Regelung samt Haftungsfragen möglich (Nurse Practice Act).
Was sind die Erfolgsfaktoren?
Zu den Erfolgsfaktoren zählt zum einem der finanzielle Anreiz, der durch andere Vergütungsstrukturen innerhalb der Family Health Teams gesetzt wurde. Außerdem wurden bei der Förderung der Family Health Teams nicht nur die Aufgaben der Leistungserbringer, sondern auch der Aufbau einer Organisationsstruktur mit berücksichtigt, die sich um Dinge wie Abrechnung, Qualitätsmanagement und Personalangelegenheiten kümmert. So können sich die Leistungserbringer ganz auf die Versorgung ihrer Patienten konzentrieren.
"Es gab, wie bei allen Veränderungsprozessen, auch hier Barrieren" berichtet Dr. Lisa Ulrich, die im Sommer dieses Jahres bei der Arbeit einzelner Family Health Teams in Ontario hospitierte und Interviews mit den Teammitgliedern führte. "Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit muss natürlich bei allen Teammitgliedern vorhanden sein. Zudem bedarf es ausreichender personeller Ressourcen, um so ein Team überhaupt aufbauen zu können."
Fazit
Kanada stand vor 15 Jahren vor ähnlichen Problemen wie Deutschland derzeit: Der Bedarf an hausärztlichem Nachwuchs wurde mehr, die Gesundheitskosten stiegen, es fehlte an Koordination zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Darauf hat Kanada reagiert, indem es die primärärztliche Versorgung stärker in den Fokus gerückt hat. Das Gesundheitswesen dort ist jetzt stärker hausarztzentriert, wobei Hausärzte von weiteren Professionen, insbesondere aus dem Pflegebereich, unterstützt und entlastet werden. Eine elektronische Patientenakte unterstützt die Koordination der Behandlung. Ulrich: "Es bedarf nicht nur eines Versorgungsteams, auch die Strukturen dahinter und entsprechende Vergütungsstrukturen, bei denen beispielsweise auch präventive Leistungen bezahlt werden, sind wichtig."
Das Fazit der Versorgungsforscherin: "Das Ganze braucht Zeit, mindestens zehn Jahre, wie man am Beispiel von Kanada sieht. Deswegen sollten wir jetzt beginnen und prüfen, welche Ansätze zum Beispiel aus Kanada uns helfen könnten, die Probleme in Deutschland zu lösen. Family Health Teams eins zu eins in das deutsche Gesundheitssystem zu übernehmen, ist aufgrund der Systemvorgaben nicht möglich und auch nicht nötig. Jedoch können einzelne Ansätze als Impulse genutzt werden."
In Deutschland gibt es mit der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) bereits ein Versorgungsmodell, dessen Grundsätze sich auch in den Family Health Teams wiederfinden: ein Patienten-Einschreibesystem, der Hausarzt als erster Ansprechpartner im System, andere Vergütungsstrukturen und Versorgung im Team mit Unterstützung nicht-ärztlicher Professionen. Weitere Beispiele sind verschiedene Projekte, die die Versorgung von geriatrischen Patienten oder Menschen mit Demenz anbieten. Dabei handelt es sich jedoch oftmals um Modellprojekte, die zeitlich befristet sind und nicht über die Regelversorgung finanziert werden.
Lesen Sie dazu auch "Schweden: Teamarbeit durch Triage".