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Hausarzt MedizinNeue Perspektiven in der MS-Behandlung

Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose (MS) haben in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. Wesentlich dazu beigetragen haben das bessere Verständnis des Auto-immungeschehens und der neurodegenerativen Prozesse sowie eine Fülle an Langzeitdaten.

Das Arsenal wirksamer ­Therapeutika wurde mittlerweile um einige neue Substanzen bereichert. Und selbst bei der großen Herausforderung der bislang unbehandelbaren progressiven Verlaufsformen der MS sieht man jetzt Licht am Horizont. Das wurde auf den jüngsten Kongressen des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) und der American Academy of Neurology (AAN) deutlich.

Frühe Diagnose und Behandlung mindert Krankheitslast

Wie Prof. Dr. Giancarlo Comi, Mailand (Italien), betonte, hat sich bei ­Diagnose wie Therapie der MS ein ungeheurer Erfahrungsschatz angesammelt. Das kommt seinen Ausführungen nach auch in einer deutlichen Minderung der vormals verspäteten MS-Diagnose zum Ausdruck. So hat sich amerikanischen Erhebungen zufolge die Zeit von ersten Symptomen bis zur Diagnose von 7,2 (+/- 5,7) Jahren innerhalb von zwei Dekaden auf 0,63 (+/- 0,8) Jahre mehr als gezehntelt. Zugleich hat sich, basierend auf den Zulassungsstudien der Interferone (IFN) und von ­Glatirameracetat (GA), ein Paradigmenwechsel hin zu einer frühen krankheitsmodifizierenden Therapie durchgesetzt.

Das bedeutet aber auch, dass sich die Patientenkollektive grundlegend gewandelt haben. So hat ein Vergleich von Kohorten mit therapienaiven MS-Patienten ergeben, dass die Krankheitsaktivität im MRT tendenziell abnahm. Der durchschnittliche Anteil von ­Patienten mit neun und mehr T2-gewichteten ­Läsionen sank von 77 vor 15 Jahren auf zuletzt 47 Prozent.

Primär progrediente MS rückläufig

Diese Beobachtungen korrespondieren mit großangelegten epidemiologischen Untersuchungen aus dem schwedischen MS-Register, die einen deutlichen Rückgang der Prävalenz der primär progredienten MS (PPMS) zeigen.

Laut Dr. Helga Westerlind, Stockholm (Schweden) erfasst das Register klinische Daten von rund 80 Prozent aller MS-Patienten des Landes. Bei sechs Geburten-Kohorten aus den Jahren 1946 bis 1975 sank der Anteil der PPMS-Patienten sukzessive von 19,2 auf 2,2 Prozent. Westerlind führte diese Beobachtung vor allem auf die Einführung der frühen immunmodulatorischen Therapien zurück und auf die parallel geänderten Diagnosekriterien der schubförmig verlaufenden MS (RRMS). Bei einem großen Teil der Patienten mit diagnostizierter PPMS in der Vergangenheit könnte es sich somit um eine verkappte RRMS gehandelt haben, die in ihrem Anfangsstadium nicht erkannt wurde. Heute dagegen scheint diesen Patienten dieses Schicksal erspart zu bleiben, da sie frühzeitig als Patienten mit immunologisch aktiver MS identifiziert werden und nicht erst, wenn das inflammatorische Geschehen in der weißen Substanz nicht mehr detektierbar ist.

Individuelle Prognose im Visier

Erste Ansätze zur Entwicklung eines MS-Risiko-Scores hat Prof. Dr. Mar Tintoré, Barcelona (Spanien), vorgestellt. Dabei konnte sie sich auf umfangreiches, über Jahre gesammeltes Datenmaterial stützen. Aus einer Kohorte mit 1.015 Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS) von 1995 bis 2013 wurden die Risikofaktoren ermittelt und gewichtet, die maßgeblich zur Entwicklung einer klinisch manifesten MS (CDMS) und zu einer Behinderungsprogression beigetragen haben.

Als Beispiel für ein sehr hohes Konversionsrisiko führte Tintoré einen jungen männlichen Patienten unter 20 Jahren an. Insbesondere wegen seiner initial ausgeprägten Läsionslast mit mehr als zehn T2-Läsionen im MRT wurde sein Konversionsrisiko zur CDMS berechnet auf 32 Prozent nach einem Jahr, 48 Prozent nach zwei Jahren, 68 Prozent nach fünf Jahren und 81 Prozent nach zehn Jahren. Mittels verschiedener mathematischer Methoden wird der Score derzeit noch überarbeitet und aktualisiert, kündigte Tintoré an. Dabei sollen auch weitere Faktoren in die Berechnung aufgenommen werden. Dazu zählte sie Umweltfaktoren wie Rauchen, Vitamin-D-Spiegel und den Body-Mass-Index (BMI) sowie Rückenmarksläsionen, Hirnathrophie und neue Biomarker.

Auch bei progredienter MS spielt Inflammation eine zentrale Rolle

Eine wichtige Rolle bei progredienten Verlaufsformen der MS spielt neueren Untersuchungen zufolge die in lymphähnlichen Strukturen organisierte Inflammation der Hirnhaut. Tertiäre lymphoide Gebilde sind im Übrigen auch bei zahlreichen anderen Autoimmunerkrankungen in das inflammatorische Geschehen involviert, erklärte Prof. Dr. Richard Reynolds, London (UK).

Damit wandte er sich gegen den langgehegten Irrtum, dass bei der MS nur die weiße Substanz betroffen sei. Meningeale Infiltrate scheinen schließlich mit einem größeren Ausmaß an ­Demyelinisierung der grauen Substanz einherzugehen und das klinische Bild der MS substanziell zu verschlechtern. Nach Auffassung des Experten steht somit die Neurodegeneration am Ende einer Kaskade von Ereignissen, die ­initial in einem inflammatorischen Milieu in den Meningen ihren Ausgangspunkt nahm.

Lichtblicke bei progredienter Multipler Sklerose

Während es bisher noch keinen Ansatz zur wirksamen Behandlung der sekundär progredienten MS (SPMS) gab, gelang nun mit einem neuen Vertreter aus der Substanzklasse der S1P-Rezeptor-Modulatoren ein Durchbruch. Wie Prof. Dr. Ludwig Kappos, Basel (Schweiz), berichtete, konnte durch Siponimod der Anteil der Patienten mit nach drei Monaten bestätigter Behinderungsprogression signifikant (p = 0,013) um 21 Prozent verringert werden. Das Risiko einer nach sechs Monaten bestätigten Behinderungsprogression ging sogar um 26 Prozent zurück (p = 0,006). Das positive Ergebnis könnte laut Kappos unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass es sich bei Siponimod im Unterschied zu Fingolimod nicht um ein Prodrug handelt. Es bindet vielmehr direkt und selektiv an die S1P-Rezeptor-Subtypen 1 und 5. Da Siponimod ebenso wie Fingolimod die Blut-Hirn-Schranke (BHS) überwindet, könnten auch direkte Einflüsse auf S1P-Rezeptoren im Gehirn zum Therapieeffekt beitragen.

Erstmals gelang es jetzt auch, positive ­Effekte bei Patienten mit PPMS zu erreichen. Wie Prof. Dr. Xavier ­Montalban, Barcelona (­Spanien) von der ORATORIO-Studie berichtete, konnte die Depletion von B-Zellen durch den ­monoklonalen Antikörper Ocrelizumab das Risiko einer nach 24 Wochen bestätigten Behinderungsprogression zum Ende der Beobachtung nach vier Jahren um 25 Prozent senken.

Gezielte Eingriffe in das Autoimmungeschehen

Die außergewöhnlichen Effekte einer B-Zell-Depletion auf das Autoimmungeschehen der MS begründete Prof. Dr. Amit Bar-Or, Montreal, Quebec (Kanada), mit zentralen immunologischen Funktionen der B-Zelle. Diese gingen weit über die alleinige Antikörper-Produktion hinaus, wie sie bislang im wissenschaftlichen Fokus gestanden hatte. Als B-Zell-Funktionen mit ­potentieller Relevanz für die MS nannte der Neuroimmunologe insbesondere Antigen-Präsentation und Zytokin-Produktion. So sei bei unbehandelter MS eine anomale B-Zell-Formation festzustellen, die mit einer Dysbalance pro- und antiinflammatorischer Zytokine einhergehe. Dies wiederum rufe proinflammatorisch aktive T-Zellen auf den Plan und untergrabe die Gegenregulation durch antiinflammatorische Treg-Zellen. Vermittelt über die B-Zellen sind laut Bar-Or vermutlich auch myeloische Zellen in das Autoimmungeschehen bei der MS integriert.

Für die Effekte einer gezielten Reduktion proinflammatorischer T-Zellen liegen jetzt Langzeiterfahrungen vor. So berichtete Prof. Dr. Gavin Giovannoni, London (UK) von den Ergebnissen der zweijährigen Verlängerung der CLARITY-Studie sowie einer weiteren Nachbeobachtung über sechs Monate. Dabei stellte sich heraus, dass die unter der initialen zweijährigen Therapie mit Cladribin-Tabletten erreichten Effekte auf die Schubfrequenz für die folgenden zweieinhalb Jahre ohne weitere Therapie aufrechterhalten werden konnte. Dasselbe galt für die Minderung der Behinderungsprogression.

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