"Wahrscheinlich sind es nur Hämorrhoiden …", eröffnet Jochen Fricke das Gespräch im Sprechzimmer. Herr Fricke kommt seit einigen Jahren in die hausärztliche Praxis, bisher nur wegen interkurrenter Infekte. Er ist verheiratet, hat 2 Kinder und arbeitet in einer Bank im Ort. Der 36-Jährige berichtet etwas aufgeregt, dass er vor einer Woche Blut am Toilettenpapier entdeckt habe. Über eine Selbstuntersuchung mit einem Spiegel habe er Veränderungen am After entdeckt. Eine in der Apotheke gekaufte Salbe habe nichts bewirkt und er wolle deshalb ein "stärkeres Mittel".
Die Inspektion zeigte ein ca. 1 cm großes, knötchenförmiges, nicht druckschmerzhaftes Geschwür. Bei der Palpation imponierte eine Schwellung der inguinalen Lymphknoten. Auf meine Aussage hin, dass es sich nicht um ein Hämorrhoidalleiden handele und meine Frage, ob er eine Erklärung für die Veränderung habe, wurde er zunächst sehr schweigsam. Ich hielt es für wichtig, dieses Schweigen nicht zu unterbrechen um ihm Gelegenheit zu geben, seine Gedanken zu sortieren. Schließlich sprudelte aus ihm heraus, dass er Analverkehr mit einem ihm unbekannten Mann vor ca. 4 bis 5 Wochen gehabt hätte und er nun auch Angst habe, sich mit HIV infiziert zu haben. Seine Frau, mit der er schon seit Jahren nicht mehr schlafen würde, wüsste nichts von seiner sexuellen Neigung.
Erleichterung beim Patienten
Er hatte bis dahin mit Niemandem über seine außerehelichen sexuellen Aktivitäten mit Männern gesprochen und zeigte sich sehr erleichtert, dass er "sich nun endlich einmal öffnen könne." Nach einem ausführlichen Gespräch wurden eine Urin- und eine Blutanalyse veranlasst. Hier zeigte sich eine akute Lues-Infektion, andere sexuell übertragbare Infektionen (STI) wie HIV, Hepatitis B und C etc. lagen zum Untersuchungszeitpunkt nicht vor.
Der Fall von Herrn Fricke ist nicht so selten, wie man möglicherweise denkt. Auch wenn sich nur ca. ein bis fünf Prozent der männlichen Bevölkerung als homosexuell versteht, gibt es deutlich mehr Männer, die gleichgeschlechtliche Kontakte haben [2, 3, 6]. Neun Prozent aller Männer in Deutschland leben homo- oder bisexuell [6]. Auch sexuelle Außenkontakte in festen Partnerschaften sind keine Seltenheit. 21 Prozent aller Männer und 17 Prozent aller Frauen gaben an, schon einmal während einer "festen Beziehung" sexuelle Außenkontakte gehabt zu haben [3].
Sexualanamnese
Rund 3.100 Menschen, so berechnete das Robert Koch-Institut, infizierten sich in Deutschland 2016 mit dem HI-Virus. Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) stellen mit 68 Prozent den größten Anteil bei den HIV-Neu-Infektionen [8]. Auch bei Syphilis sind MSM mit 84,7 Prozent aller Neudiagnosen besonders häufig betroffen [7].
Das Wissen um die sexuelle Orientierung bzw. um das Sexualverhalten der Patienten kann helfen, Risiken besser einschätzen zu können und "an den richtigen Stellen" zu suchen. Ein Screening, zum Beispiel auf Chlamydien oder Gonokokken, wird zielführender, wenn bekannt ist, ob Vaginal-, Anal- oder Oralverkehr praktiziert wird.
Doch tritt man den Patienten nicht zu nahe, wenn man diese Themen anspricht? Studien belegen das Gegenteil. In einer Schweizer Erhebung mit 1.452 Teilnehmenden äußerten 90,9 Prozent der befragten Männer und Frauen, dass sie sich wünschen würden, dass ihr Arzt sie zu Fragen der sexuellen Gesundheit direkt anspricht. 59,8 Prozent könnten sich dies sogar im Erstgespräch im Rahmen einer allgemeinen Anamnese vorstellen [5].
Auf die Frage, wie Ärzte sie am besten zu ihrer sexuellen Orientierung ansprechen sollten, war die häufigste Antwort unter schwulen, lesbischen und bisexuellen Jugendlichen in Los Angeles "Just ask me!" [4]. Also recht unkompliziert. Die zweithäufigste Antwort war "Talk to me without my parents in the room" und zeigt, dass es auch wichtig ist, dabei einen geschützten Rahmen herzustellen. Dies gilt mit Sicherheit nicht nur für Jugendliche.
Tipps zur Gesprächsführung
Bevor Sie ein Gespräch beginnen, fragen Sie sich, ob Sie gerade offen für das Thema sind. Haben Sie ausreichend Zeit? Kann ich einen geschützten Rahmen für das Gespräch bieten? Wenn Sie die Fragen mit "Ja" beantworten, können Sie starten.
Die Patienten sollten den Hintergrund des Gesprächs verstehen, z. B. die Diagnose einer sexuell übertragbaren Infektion. Vielen Patienten hilft es, wenn sie noch einmal explizit darüber informiert werden, dass alle Gesprächsinhalte der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen.
Stellen Sie sicher, dass Ihr Gegenüber versteht, was Sie meinen, aber "verbiegen" Sie sich nicht, indem Sie Bezeichnungen benutzen, mit denen Sie sich selbst unwohl fühlen. Fragen Sie nach, wenn Ihnen unklar ist, was z. B. mit "untenrum" gemeint ist. Bieten Sie andere Begriffe an, konkretisieren Sie: "Ok, Sie meinen also Ihre Vagina, Ihre Scheide …?". Bei Verständigungsproblemen kann der Einsatz von Bildmaterial und Grafiken die Beratung unterstützen. Vermeiden Sie wertende Begriffe, wie z. B. "fremdgehen" oder "hintergangen worden sein". So bleiben Sie offen für ein möglicherweise anderes Wertesystem bei Ihrem Gegenüber.
Chancen für die Prävention
In Arzt-Patienten-Beziehungen, in denen die Patienten Wertschätzung erfahren und sich für ihre Sexualität nicht schämen müssen, können auch Gespräche über sexuelle Störungen oder Schwierigkeiten beim Schutz vor HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen Raum finden. Wenn Patienten häufiger mit einer sexuell übertragbaren Infektion auftauchen, können gezielte Fragen helfen zu überprüfen, ob ein Bedarf nach medizinischer oder psychologischer Unterstützung besteht.
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Können Kondome eine Schutzstrategie sein? Kann der Kondomgebrauch gegenüber dem Partner/der Partnerin durchgesetzt werden? Gibt es sexuelle Dysfunktionen, die den Kondomgebrauch verhindern? Stört die Kondomverwendung das sexuelle Skript?
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Sind die Möglichkeiten der medikamentösen Prävention bekannt? In Deutschland ist die für die Präexpositionsprophylaxe (PrEp) zugelassene Medikamentenkombination aus Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil auf Privatrezept erhältlich (Monatspackung ca. 50 Euro) [9].
Risikoanamnese
Da HIV und einige andere sexuell übertragbare Infektionen symptomlos verlaufen können und auf der anderen Seite einige Patienten Übertragungsrisiken auch überängstlich überschätzen, ist eine Risikoanamnese empfehlenswert. Folgende Daten sollten erhoben werden (adaptiert nach Britischer Leitlinie) [1]:
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Datum des letzten Sexualkontakts sowie Anzahl der Sexualpartner der vergangenen drei Monate. Die Anzahl der Partner gibt einen Hinweis darauf, wie wahrscheinlich eine sexuell übertragbare Infektion ist.
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Geschlecht der Partner:
- Beispiel: "Haben Sie eher Sex mit Männern oder mit Frauen?" Mit dieser Frage signalisieren Sie Ihrem Gegenüber, dass Sie sich grundsätzlich beides vorstellen können. Ihr Patient kann dann auf seine sexuelle Orientierung eingehen, muss es aber nicht.
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Beim Sexualkontakt exponierte Körperteile:
- Beispiele: "Welche Art von sexuellen Kontakten haben oder hatten Sie?" oder "Gab es vaginalen, analen oder oralen Kontakt?" oder "Sie wünschen einen HIV-Test, da Sie meinen, ein Risiko gehabt zu haben. Was ist denn genau passiert?"
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Informationen über den Partner:
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Wurden Kondome verwendet?
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Ist bekannt, ob der Partner HIV-positiv ist und HIV-Medikamente einnimmt? (Unter einer wirksamen HIV-Therapie ist von keinem Übertragungsrisiko mehr auszugehen!)
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Ist bekannt, ob der Partner andere sexuell übertragbare Infektionen hat?
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Bei Symptomen gezielt nachfragen, welche Körperregionen betroffen sind (Penis, Vagina, Rachen, Anal-bereich…)
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Anamnese des Impfstatus (u. a. Hepatitis A/B, HPV)
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Vereinbarung, wie das Testergebnis übermittelt werden soll
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Alkohol- und Drogenanamnese
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Der Konsum von Drogen vor oder während des Sex kann Phasen der sexuellen Aktivität deutlich verlängern und intensivieren. Faktoren wie häufige Partnerwechsel, kleinere Schleimhautverletzungen und Abnahme eines konsequenten Schutzverhaltens kann das Risiko für eine HIV/STI-Übertragung erhöhen.
Gespräche trainieren
Die Fähigkeit, Gespräche über Sexualität führen zu können, lässt sich trainieren. Die Deutsche AIDS-Hilfe e. V. entwickelte gemeinsam mit ärztlichen Fachgesellschaften (dagnä, DAIG, DSTIG, Kompetenznetz HIV/AIDS) und der BzgA ein spezifisches Weiterbildungsangebot für Ärzte. Unter dem Titel "Let‘s talk about sex" vermitteln erfahrene Ärzte und Psychologen in Workshops nicht nur aktuelles Wissen zu HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen, sondern auch ganz praktisch, wie Gespräche über sexuelle Gesundheit geführt werden können (siehe Kasten auf der vorhergehenden Seite).
Workshops „Let‘s talk about sex“
Ärztliche Qualitätszirkel, Medizinische Versorgungszentren oder Veranstalter von Fachtagungen können bei der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. Workshops kostenfrei buchen. Die Seminarreihe wird von den Privaten Krankenversicherungen (PKV) unterstützt. Informationen über alle Angebote finden sich unter www.aidshilfe.de/aerztefortbildung
Kampagne "Kein Aids für alle"
Mit der Kampagne "Kein Aids für alle" möchte die Deutsche AIDS-Hilfe darauf aufmerksam machen, dass viele HIV-Infektionen nach wie vor unentdeckt sind. Besteht im Arzt-Patienten-Gespräch Offenheit für das Thema "Sexualität", können Risiken für eine HIV-Infektion und andere sexuell übertragbare Infektionen rechtzeitig erkannt und behandelt werden.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert.
Literatur
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1 Brook et al. 2013 UK national guideline for consultations requiring sexual history taking. Clinical Effectiveness Group British Association for Sexual Health and HIV. Int J STD AIDS. 2014 May;25(6):391-404. doi: 10.1177/0956462413512807. Epub 2013 Nov 27.
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2 Chandra A et al. Sexual Behavior, Sexual Attraction, and Sexual Identity in the United States: Data from the 2006-2008 National Survey of Family Growth. US Department of Health and Human Services, März 2011
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3 Haversath J, Gärttner KM, Kliem S, Vasterling I, Strauss B, Kröger C: Sexual behavior in Germany—results of a representative survey. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 544–50. DOI: 10.3238/arztebl.2017.0545
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4 Meckler GD, Elliott MN, Kanouse DE, Beals KP, Schuster MA. Nondisclosure of Sexual Orientation to a Physician Among a Sample of Gay, Lesbian, and Bisexual Youth. Arch Pediatr Adolesc Med. 2006; 160: 1248-1254
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5 Meystre-Agustoni G, Jeannin A, de Heller K, Pécoud A, Bodenmann P, Dubois-Arber F. Talking about sexuality with the physician: are patients receiving what they wish? Swiss Med Wkly 2011; 141: w13178 (doi:10.4414/smw.2011.13178).
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6 Reckitt Benckiser Deutschland GmbH. Durex Global Sex Survey 2017. Harris Interactive. URL: https://www.rb.com/de/
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7 Robert-Koch-Institut. 2016. Syphilis in Deutschland im Jahr 2015: Weiterer verstärkter Anstieg von Syphilis-Infektionen bei Männern, die Sex mit Männern haben. Epidemiologisches Bulletin, 19. Dezember 2016 / Nr. 50. DOI 10.17886/EpiBull-2016-071
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8 Robert-Koch-Institut. 2017. Epidemiologisches Bulletin. 23. November 2017, Nr. 47 https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2017/47/Art_01.html
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9 Wicht H. 2017. Durchbruch: Bald HIV-Prophylaxe für 50 Euro in Deutschland verfügbar https://magazin.hiv/2017/09/12/durchbruch-bald-hiv-prophylaxe-fuer-50-euro-in-deutschland-verfuegbar