Vorsichtig tastet Sonia Meriano den Bauch ab. "Es hat gestern angefangen. Unsere gesamte Reisegruppe hat seither Magen-Darm-Probleme", erklärt ihr Patient. Der Engländer ist zum Wandern in Nepal, sein Ziel ist das Basislager des Mount Everest – doch hier, auf knapp 4.400 Metern Höhe, werden er und seine Freunde zur Pause gezwungen. Während er auf der spärlichen Liege untersucht wird, warten die Mitreisenden bereits im "Wartezimmer" vor der Praxistür: ein einfach gezimmerter Wintergarten aus Plexiglas, in dem allein die Sonne als Heizung dient.
Sonia Meriano verschreibt ein Mittel gegen die Übelkeit, rät zu einem Tag Pause. "Sie sollten auf keinen Fall weiter aufsteigen. Da die ganze Reisegruppe betroffen ist, ist das zwar unwahrscheinlich, aber wir müssen ausschließen, dass es sich um ein Erbrechen als Zeichen der Höhenkrankheit handelt", erklärt sie. Sicherheitshalber gibt sie auch ein Breitband-Antibiotikum aus. "Das würde ich normalerweise nicht machen", erklärt Meriano. "Doch hier oben müssen wir auf Nummer sicher gehen – und zwar schnell."
Denn Meriano ist Notfall- und Höhenmedizinerin und aktuell ehrenamtlich in der höchsten Arztpraxis der Welt auf 4.371 Metern im Einsatz. Dabei ist nur ein Teil ihrer Aufgabe klassische Höhenmedizin: "Zu einem großen Teil agieren wir hier auch als Hausärzte", erklärt sie. Einfache Magen-Darm-Probleme oder Erkältungen kommen ebenso häufig vor wie Ödeme als Folge einer Höhenkrankheit. "Letzte Woche hatten wir einen Träger, der von einem Yak attackiert wurde", erzählt sie von einem besonders spektakulären Fall.
70 Prozent sind Einheimische
Meriano, die aus Australien für eine Saison nach Nepal gekommen ist, reizen vor allem diese spektakulären Fälle. Rund zweimal pro Woche muss die "Gemeinschaftspraxis" aus zwei ehrenamtlich tätigen Ärztinnen plus "MFA" Thaneshwar Bhandari den Helikopter zum Abtransport ins Tal rufen. Häufigste Diagnose: Verdacht auf Lungenödem.
"Hausarzt-Praxis" ist die kleine Station am Rande des Dorfs vor allem für die Einheimischen. Rund 70 Prozent der Patienten sind Nepali, nur jeder Dritte ist Tourist. "Uns ist wichtig, vor Ort als Ansprechpartner wahrgenommen zu werden", erklärt Bhandari, der aus Nepal stammt. "Viele achten sonst – auch aus finanziellen Gründen – nicht auf ihre Gesundheit", weiß er. Bhandari agiert hier als Botschafter, auf die eigene Gesundheit zu achten – und als Übersetzer, wenn die Einheimischen in die Praxis kommen.
Der 1973 gegründeten Wohltätigkeitsorganisation "Himalayan Rescue Association", die die Praxis in Pheriche und in den Sommermonaten auch eine Krankenstation im Basislager des Mount Everests (5.364 Meter) betreibt, ist dieser Einsatz für die Gesundheit der Bevölkerung in den Bergen wichtig. So zahlen Einheimische weniger als ein Zehntel der Kosten, die für Ausländer anfallen: 70 US-Dollar zahlen sie für die Konsultation, 100 für ein Gespräch außerhalb der Sprechzeiten, plus Kosten für Arzneien.
Diese sind in einem Regal im Behandlungsraum gestapelt, außerdem gibt es in einer kleinen Abstellkammer die "Apotheke". Ordnung oder gar ein Warenwirtschaftssystem fehlen, viele der Arzneien sind Spenden, etwa von Touristen auf dem Weg zurück ins Tal.
Spärliche Praxis-Einrichtung
Aufgrund der spärlichen Ausrüstung der Praxis ist die Kooperation mit den Kliniken in Kathmandu essenziell. So steht etwa ein mobiles Ultraschallgerät neben der Liege, doch die Bilder sind alt und undeutlich. "In Verdachtsfällen überweisen wir nach Kathmandu", erklärt Ärztin Molly. Erst kürzlich sei das bei einer akuten Blinddarmentzündung der Fall gewesen, und auch der nepalesische Yak-Treiber, der wegen der Attacke in die dörfliche Praxis kam, musste in die Hauptstadt transportiert werden.
Es ist genau diese Mischung aus Notfall- und Höhenmedizin und hausärztlicher Praxis, die Meriano für den ehrenamtlichen Einsatz begeistert hat. In der Regel bleiben sie und ihre Kollegen für eine Saison in der Höhe. Die Motivation sind die Fälle, die die Höhenmediziner in der oft flachen Heimat eben nicht finden. "Immerhin haben wir unsere Facharztqualifikation gewählt, um dann auch wirklich in der Höhe zu helfen", erklärt sie. So war sie in den letzten Jahren unter anderem auch im schweizerischen Zermatt im Einsatz.
Der Großteil der internationalen Ärzte stammt aus Europa oder den USA. Viele von ihnen sind dort Fachärzte für "Wilderniss Medicine" oder in der Weiterbildung dazu, weiß Meriano. Andere sind Notfallmediziner wie Kollegin Molly, die ebenfalls aus den USA stammt. Explizit gefordert ist eine solche Zusatzqualifikation für das Ehrenamt jedoch nicht.
Gemeinsam mit Bhandari, der die kleine Behandlungsstation organisiert, sind die beiden Frauen sieben Tage die Woche für ihre Patienten da. Die Dankbarkeit – nicht nur der Einheimischen – für diesen Einsatz ist groß. Denn für viele, die in der Praxis stranden, steht ihr Urlaub kurz vorm Platzen.
Die Reisegruppe mit dem kollektiven Magen-Darm-Infekt beschließt deswegen, eine Extranacht in einem kleinen Hotel einzulegen und sich bei Knoblauchsuppe – ein Geheimtipp der nepalesischen Küche – auszukurieren.
Auf dem Rückweg stoppt der englische Wanderer mit seiner Freundin erneut in der Klinik – allerdings nicht wegen gesundheitlicher Probleme, sondern um sich zu bedanken und eine Spende zu hinterlassen. "Ohne Ihre Hilfe hätten wir unsere Tour nicht beenden können."
Himalayan Rescue Association
Auch Fachärzte für Allgemeinmedizin werden für den ehrenamtlichen Einsatz vor Ort gesucht. Spezielle Qualifikationen sind nicht von Nöten. Weitere Infos finden Interessierte unter hausarzt.link/yCTAq