Berlin. Eine verlässliche Früherkennung, eine sichere Diagnostik, eine erleichterte Annahme sowie eine bessere Steuerung von Patienten – die fortschreitende Digitalisierung kann viele dieser Prozesse in der Arztpraxis unterstützen. Experten beim Zi-Kongress Versorgungsforschung 2024 am 18. September in Berlin informierten über eine Auswahl an zukunftsweisenden Anwendungen für die Praxis und räumten zugleich ein, dass es vielerorts noch an einer soliden digitalen Basis hapert.
Dr. Philipp Stachwitz, Leiter der Stabsstelle Digitalisierung bei der KBV, zeigte die große Vielfalt an Möglichkeiten auf: Per Telemonitoring können Patienten mit COPD beispielsweise mithilfe von Noah Labs engmaschig betreut werden. Die Betroffenen messen eigenständig ihre Vitalparameter und senden die Daten direkt an den behandelnden Arzt. Das Besondere: „Das System ermöglicht auch Sprachaufnahmen, die ausgewertet werden. Denn eine drohende Herzinsuffizienz lässt sich insbesondere an der Stimme frühzeitig erkennen“, sagte Stachwitz.
Eine „digitale Lotsensoftware“ (Docyet) wiederum helfe, die Vergabe von Terminen nach medizinischen Bedarfen zu priorisieren. Die Patienten beantworten Kernfragen der Anamnese online zuhause oder im Wartebereich der Praxis. Die Ergebnisse werden direkt ins Praxisverwaltungssystem übertragen und die damit verbundene medizinische Auswertung erleichtert es, die Termine nach Dringlichkeit zu sortieren.
Check-In am Terminal
Weniger Wartezeiten bei der Anmeldung in der Arztpraxis verspricht auch der „Self Check-In Terminal“ von Idana. Patienten registrieren sich beim Eintritt in die Praxis eigenständig und füllen auch einen digitalen Anamnesebogen aus. Dies spart Papier, erleichtert den Infofluss und entlastet nicht zuletzt die medizinischen Fachangestellten.
Künstliche Intelligenz dürfte künftig vor allem bei der Befunderstellung zum Einsatz kommen. „AI-Assistant“ heißt ein Programm von Jameda, mit dem das Arzt-Patienten-Gespräch datenschutzkonform aufgenommen werden kann. Die Informationen lassen sich direkt in die elektronische Patientenakte (E-PA) einspeisen und der Arzt, die Ärztin kann sich völlig auf das Gespräch konzentrieren.
Weitere der vorgestellten Anwendungen betreffen die medizinische Behandlung: Eine KI-unterstützte Bilderkennung von Siemens, handliche Sonographie-Geräte oder auch die Onkologie-App Easyoncology können Diagnostik und Therapieauswahl erleichtern.
Stachwitz skizzierte eine komplett digital arbeitende Praxis als Zukunftsmodell: Dort übernehmen Avatare einzelne Aufgaben wie etwa die Patientenannahme, bei Bedarf können ärztliche Kollegen aus dem kooperierenden Netzwerk für eine Videosprechstunde zugeschaltet werden. So sehe es etwa das Konzept von Hausarzt Stefan Spieren vor. Das Fazit des Experten: „Die Digitalisierung wird die Prozesse in den Arztpraxen erleichtern. Die Zeitersparnis wird der Patientenversorgung zugutekommen.“
Störungen der Praxisverwaltungssysteme
Bis es soweit ist, muss offensichtlich aber noch an der digitalen Basis gearbeitet werden. Denn laut einer ZI-Umfrage vom Frühjahr 2024 klagen viele Praxisinhabenden über die Qualität der Praxisverwaltungssysteme (PVS). Gut 45 Prozent der Praxen sind damit unzufrieden. Grund dafür sind die Störungen der Software, die mindestens mehrmals pro Woche, zuweilen sogar täglich auftreten. Knapp 35 Prozent der Befragten berichten von einigen Störungen im Monat und Quartal. Die Befragten konnten in der Online-Erhebung, in der 10.245 Datensätze eingeflossen sind, 85 PVS bewerten. 39 davon erhielten mehr als 20 Bewertungen.
Im Ergebnis zeigt sich, dass drei von vier Arzt- und Psychotherapiepraxen ihre aktuelle Praxissoftware nicht weiterempfehlen würden. Jene, die unzufrieden sind, berichten insbesondere dann von Problemen, wenn ein PVS-Update erfolgt ist (84,8 Prozent), beim Erstellen von elektronischen Rezepten (72,9 Prozent) oder bei einem Signaturvorgang (72,4 Prozent). 49,3 Prozent derjenigen, die mit Software zufrieden sind, geben hingegen an, dass sie kaum oder keine Probleme haben. Knapp ein Drittel (31,5 Prozent) erlebt Störungen in der Software dann, wenn der Konnektor eine Verbindung zur Telematikinfrastruktur (TI) aufbaut.
Nach einer KBV-Statistik waren 2023 rund 130 unterschiedliche Softwaresysteme in den rund 100.000 niedergelassenen Praxen in Anwendung. Die Hersteller seien, so die Experten auf dem Zi-Kongress, bislang wenig ambitioniert für den begrenzten deutschen Markt mit etwa 100.000 Arztpraxen eine funktionsfähige Software zu entwickeln. „Die größten Anbieter zählen in unserer Auswertung nicht zu den besten“, sagt Thomas Czihal, stellvertretender Zi-Vorstandsvorsitzender.
Unter den 15 Software-Angeboten, für die es zumindest eine Empfehlung gibt, war keine Anwendung der großen IT-Anbieter. Jüngst (13.September) wurde die KBV daher in der Vertreterversammlung beauftragt, ein Konzept für eine rechtssichere Infobasis erarbeiten zu lassen. Ziel ist es, auf Basis der Ergebnisse ein Konzept auszuarbeiten und so eine „Marktbewegung“ auszulösen, so Czihal.
Digitale Ersteinschätzung zur Steuerung
Volker Dentel, Geschäftsführer von kv.digital, verwies in seinem Beitrag auf den digitalen Terminservice www.116117.de, der die Behandlung insbesondere bei medizinischen Notfällen erleichtern soll. Zentrales Instrument dafür ist die „Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland (SmED). Die Software verarbeitet die Angaben zu den Beschwerden, Symptomen und Schweregraden, stuft anschließend die Dringlichkeit der Behandlung ein und empfiehlt einen Behandlungsort für den Patienten. Ärztinnen und Ärzte können freie Termine auf der Plattform einstellen und Patienten können diese sofort buchen. Bislang jedoch, so Dentel, werden etwa 45 Prozent der Termine nicht genutzt.