Metaanalyse liefert erstmals DatenAntidepressiva: Wie häufig sind Absetzsymptome?

Wie viele Patienten nach dem Absetzen von Antidepressiva unter Absetz- beziehungsweise Entzugssymptomen wie Schwindel, Übelkeit oder Schlafstörungen leiden, hat erstmals ein deutsches Forschungsteam in einer Metaanalyse untersucht. Das Studienteam kam zu dem Ergebnis: Nur wenige sind betroffen. Doch es gibt auch Kritik.

Antidepressiva gehören hierzulande zu den am häufigsten verschriebenen Arzneien: 2022 waren es 1,8 Milliarden Tagesdosen.

Köln/Berlin/Freiburg/Dresden. Symptome nach dem Absetzen eines Antidepressivums sind schwer zu erfassen, kann doch auch der Nocebo-Effekt eine Rolle spielen, also die negative Erwartungshaltung des Patienten oder der Patientin, dass nach dem Absetzen unerwünschte Symptome auftreten.

Nun hat ein Forschungsteam um Dr. Jonathan Henssler von der Universität Köln erstmals in einer großen Metaanalyse untersucht, wie häufig beispielsweise Schwindel, Übelkeit, Verwirrtheit, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen tatsächlich vorkommen – eine wichtige Info sowohl für die Aufklärung von Patienten als auch für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte.

Für die Metanalyse wurden insgesamt 79 Studien mit über 21.000 Teilnehmenden analysiert, darunter 44 randomisierte klinische Studien und 35 Beobachtungsstudien. Bei den Probanden (70 Prozent weiblich, mittleres Alter 45 Jahre) handelte es sich um Personen, die an einer psychischen Störung, einer Verhaltensstörung oder einer neurologischen Entwicklungsstörung erkrankt waren.

16.502 hatten ein Antidepressivum abgesetzt (u.a. Des-/Venlafaxin, Paroxetin, Imipramin, (Levo)milnacipran, Citalopram), und zwar in einem Zeitraum von 1 bis 156 Wochen vor dem jeweiligem Studienbeginn. 4.470 Probanden setzten ein Placebo-Präparat ab.

Absetzsymptome auch in der Placebo-Gruppe

Von den Teilnehmenden, die Antidepressiva absetzten, berichteten 31 Prozent von mindestens einem Absetzsymptom (etwa 1 Patient von 3), 2,8 Prozent von mindestens einem schweren Symptom, das zur Wiederaufnahme der Medikation oder zum Studienabbruch führte (etwa 1 Patient von 35).

Dabei war die Einnahme von Desvenlafaxin, Venlafaxin, Imipramin und Escitalopram mit einem höheren Risiko für Absetzsymptome assoziiert. Das Absetzten von Imipramin, Paroxetin und Desvenlafaxin und Venlafaxin war mit schwereren Symptomen assoziiert.

Klare Aussagen bezüglich eines spezifischen Wirkstoffs zu treffen, ist anhand einer Metaanalyse allerdings kaum möglich, da einige Antidepressiva nur in wenigen Studien untersucht wurden. Zudem konnten häufig eingesetzte Wirkstoffe wie Bupropion, Amitriptylin oder Lithium nicht analysiert werden, da zu wenig Daten vorlagen.

Auch von den Teilnehmenden, die Placebo-Präparate erhielten, gaben 17 Prozent Absetzsymptome an und 0,6 Prozent schwere Symptome – hier könnte also unter anderem der Nocebo-Effekt zum Tragen kommen.

Kritik an Ergebnissen

Die Forscherinnen und Forscher schlossen daraus auf das Ausmaß des Nocebo-Effekts und errechneten, dass rund 15 Prozent der Teilnehmenden, die ein Antidepressivum abgesetzt hatten, tatsächlich an Absetzsymptomen litten. Dies entspricht etwa jedem 6. bis 7. Patienten. Schwere Absetzsymptome seien bei etwa jedem 35. Patienten zu erwarten.

Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) macht darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung “Nocebo-Effekt” hier falsch sei. “In den meisten berücksichtigten Studien wurden nach dem Absetzen des Placebo-Präparats  alle berichteten unerwünschten Ereignisse zusammengetragen, darunter überwiegend leichte Formen von Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit oder Bauchkrämpfe. Solche Ereignisse haben in der Allgemeinbevölkerung eine hohe Basisrate, sie treten auch unabhängig vom Absetzen eines Medikamentes oder Scheinmedikamentes relativ häufig auf.”

Um zu bestimmen, ob dies Nocebo-Effekte sind, müssten Placebo-Absetzgruppen mit unbehandelten Personen verglichen werden. Dies sei in dieser Arbeit in keiner der eingeschlossenen Studien der Fall gewesen, somit sei die Bezeichnung Nocebo-Effekte nicht zulässig.

Schnelles oder sukzessives Absetzen?

In der Studie zeigte sich zudem, dass es im Hinblick auf Absetzsymptome keinen Unterschied macht, ob das Antidepressivum sukzessive oder plötzlich abgesetzt wurde. Allerdings: „In vielen Studien bedeutet schrittweises Absetzen, dass die Medikamente innerhalb von zwei oder vier Wochen abgesetzt wurden, was relativ rasch ist. Dass sich hierbei kein Unterschied zum abrupten Absetzen zeigt, ist darum wenig erstaunlich“, schränkt Privatdozent Dr. Michael P. Hengartner, klinischer Psychologe von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften gegenüber dem Science Media Center ein.

Relevant sei zudem, wie lange die Medikamente zuvor eingenommen wurden: Wurden die Medikamente nur zwölf Wochen verabreicht, mache es keinen Unterschied, ob die Medikamente abrupt oder innerhalb von zwei Wochen ausgeschlichen wurden, so Hengartner.

„Viele Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass langsames Ausschleichen erst nach längerer Einnahme notwendig ist, und dann sollte dieses möglichst langsam in kleinen Schritten erfolgen – über zwölf Wochen und mehr, falls nötig.“

Professorin Katharina Domschke vom Universitätsklinikum Freiburg fügt hinzu: „Ein Unterschied bezüglich des Auftretens von Absetzsymptomen nach langsamer Dosisverminderung im Gegensatz zu abruptem Absetzen wäre definitiv zu erwarten gewesen und widerspricht der gängigen klinischen Praxis und Leitlinienempfehlungen. Überdies wird langsames Absetzen für die meisten Medikamente, auch im nicht-psychiatrischen Bereich, empfohlen.“

Auch die DGSP betont: “In der realen Welt nimmt die Mehrheit der Patientinnen und Patienten ihr Antidepressivum im Durchschnitt über zwei Jahre ein. Frühere Untersuchungen deuten sehr wohl an, dass die Einnahmedauer relevant ist und dass sich eine höhere Rate insbesondere von langwierigen schweren Symptomen wohl auch erst bei einer Einnahme von über einem Jahr manifestiert.”

Einschätzung der Ergebnisse

Domschke resümiert: „Die Metaanalyse verdeutlicht, dass zum einen Absetzsymptome bei Antidepressiva auftreten können, diese aber zum anderen in einem begrenzten Ausmaß auftreten. Eigentlich ist die Grundaussage der Studie, dass der Anteil der Betroffenen relativ gering ist und Antidepressiva nicht abhängig machen.“

Die DGSP sieht das anders: Die Studie unterschätze “aufgrund methodischer Limitationen das Risiko und die Schwere von Entzugssymptomen bei leitliniengerechten Antidepressiva-Behandlungen. Die Schlussfolgerung, dass nur eine kleine Minderheit der Patientinnen und Patienten Entzugssymptome erfahren wird, wovon die allermeisten zudem eher milder Natur sind, dürfte in dieser Form nur auf Kurzzeitbehandlungen von maximal sechs Monaten zutreffen, wo nicht leitliniengetreu behandelt wurde (d.h. Erhaltungstherapie von mindestens sechs Monaten nach vollständiger Symptomremission).

Professor Klaus Lieb von der Universitätsmedizin Mainz berichtet, es sei bereits bekannt gewesen, dass Absetzphänomene eher bei Venlafaxin, Paroxetin und trizyklischen Antidepressiva wie Imipramin auftreten. „Dass Escitalopram auch ein eher hohes Risiko hat, ist neu.“

Bei der Auswahl von Antidepressiva zur Erstbehandlung einer Depression sei dies allerdings nur insofern relevant, „dass von den vier Antidepressiva nur Escitalopram bei einer Erstbehandlung bevorzugt gegeben wird. Die vermehrt auftretenden Absetzphänomene unter Escitalopram würden dafürsprechen, Sertralin als erste Wahl den Vorzug zu geben“, erklärt Lieb.

Quelle: Lancet Psychiatry 2024; doi 10.1016/ S2215-0366(24)00133-0

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