Depressive Erkrankungen (F32.- und F33.-) betreffen jährlich 6,8 Prozent der Menschen in Deutschland [8] und sind die häufigste Ursache für die jährlich mehr als 9.000 Suizide landesweit [3]; [14]. Eine fachärztliche oder psychotherapeutische Behandlung ist oft erst nach langem Warten verfügbar, weshalb die hausärztliche Versorgung von zentraler Bedeutung ist.
Im Deutschland-Barometer Depression (letzte repräsentative Befragung von mehr als 5.000 Erwachsenen, veröffentlicht am 8.11.22) nannten Personen mit diagnostizierter Depression (N = 1.183) ihre erste Anlaufstelle, um Hilfe bei einer Depression zu bekommen: Dabei gaben 51 Prozent Hausärzte als erste Anlaufstelle an, 25 Prozent nannten Fachärzte für psychische Erkrankungen und 19 Prozent psychologische Psychotherapeuten. Heilpraktiker waren nur für 0,7 Prozent der Befragten die erste Anlaufstelle. Dies unterstreicht die wichtige Rolle der hausärztlichen Versorgung, führt jedoch auch zu Herausforderungen, da für die Vielzahl der Patienten, die Behandlung suchen, nur begrenzte zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen.
Warum DiGA?
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) bieten einen niedrigschwelligen Zugang zu einer Behandlung. Wenn sie begleitet werden, weisen sie eine ähnliche Effektivität auf wie eine Kurzzeit-Psychotherapie oder eine Gruppenbehandlung im direkten Kontakt [1]. Mit diesen Programmen können Sie Patienten in der hausärztlichen Versorgung ein psychotherapieähnliches Angebot unterbreiten. Digitale Interventionen können zur Überbrückung der Wartezeit auf eine Face-to-Face-Psychotherapie, als unterstützende Ergänzung einer eingeleiteten Behandlung mit Antidepressiva oder auch als eine Möglichkeit des Selbstmanagements bei leichten Depressionen genutzt werden.
Laut Deutschland-Barometer Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention (2022) nutzen sieben Prozent der Betroffenen, die sich in einer depressiven Phase befinden, Online-Selbstmanagementprogramme (N = 232). Von allen Befragten mit diagnostizierter Depression (N = 1.183) gaben drei Prozent an, dass Online-Selbstmanagementprogramme bei ihnen eingesetzt wurden. 26 Prozent mit diagnostizierter Depression gaben an, Online-Selbstmanagementprogramme nicht zu kennen.
Was empfiehlt die Leitlinie?
In der aktuellen S3-Leitlinie (2022) haben digitale Intervention an Bedeutung gewonnen. Bei leichter Depression empfiehlt sie beispielsweise “Maßnahmen mit niedriger Intensität sowie internet- und mobilbasierte Interventionen”. Außerdem rät die Leitlinie, digitale Interventionen begleitet anzubieten und ein regelmäßiges Monitoring der Adhärenz und Wirksamkeit durchzuführen. Auch soll vor dem Einsatz von Internet- und mobilbasierten Interventionen zur Behandlung depressiver Störungen eine adäquate Diagnostik, Differenzialdiagnostik, Indikationsstellung, Aufklärung und Verordnung erfolgen.
Seit Anfang 2020 ist mit dem “Digitale-Versorgung-Gesetz” in Deutschland die Rechtsgrundlage für die Anwendung digitaler Interventionen geschaffen. In der DiGA-Verordnung ist festgelegt, dass die Kosten für geprüfte DiGA durch gesetzliche Krankenkassen getragen werden. Über einen Antragsprozess beim BfArM werden sowohl die Evidenzbasis der Inhalte sowie die technische Integrität und die Umsetzung des Datenschutzes geprüft. Basierend auf den vorgelegten Wirksamkeitsnachweisen werden geeignete Interventionen anschließend vorläufig oder dauerhaft ins DiGA-Verzeichnis (https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis) aufgenommen.
Dort finden sich Informationen zum Anwendungsbereich, der Evidenzbasis sowie zu den mit der Verordnung verbundenen ärztlichen Tätigkeiten. So können Behandler schnell einen Überblick über verfügbare Interventionen gewinnen, die weit höherem Standard genügen müssen als die weitgehend ungeprüften Apps aus dem App-/Playstore. Die Verordnung erfolgt dabei extrabudgetär über das Muster 6 und anhand der Pharmazentralnummer (zu finden im DiGA-Verzeichnis) und kann durch ärztliches und psychotherapeutisches Fachpersonal ausgestellt werden (mehr in “Der Hausarzt” 6/23).
Verschreibungsfähige Programme
Aktuell gibt es für Depression sechs verschreibungsfähige Anwendungen im DiGA-Verzeichnis (Stand 4.5.23). Das Programm Deprexis® wurde in mehreren RCT evaluiert und dauerhaft als DiGA aufgenommen. Beispielsweise haben Klein und Kollegen eine Studie [9] mit 1.013 erwachsenen Patienten durchgeführt. Die Interventionsgruppe erhielt die gewöhnliche Behandlung (Treatment As Usual, TAU) und arbeitete zusätzlich mit Deprexis®, während die Kontrollgruppe nur TAU erhielt. Personen mit einer mittelgradigen Depression (PHQ-9-Score 10-14) wurden während der Arbeit mit Deprexis® professionell begleitet. Nach drei Monaten sowie sechs Monaten wurde eine signifikant geringere Symptomausprägung in der Interventionsgruppe nachgewiesen (respektive d (Effektstärke) = 0.39 und 0.32).
Selfapy wurde ebenfalls dauerhaft in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen und in einer randomisierten kontrollierten Studie [10] evaluiert. Die Studie wurde mit 400 Patienten mit depressiver Episode oder Dysthymie durchgeführt. Nach zwölf Wochen Intervention konnte verglichen mit einer unbehandelten Wartekontrollgruppe eine größere Reduktion depressiver Symptome nachgewiesen werden (d = 1.47 für die unbegleitete Interventionsnutzung im Vergleich zur Wartegruppe). Selfapy bietet des Weiteren eine Begleitung durch psychologisches Fachpersonal an, welche allerdings ein Zusatzangebot darstellt, das nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Sowohl für Deprexis als auch Selfapy ist jedoch zu beachten, dass besonders Wartelisten-Kontrollbedingungen zur Bestimmung der Wirksamkeit einer psychotherapeutischen Depressionsbehandlung ungeeignet sind, da für die Patienten ersichtlich ist, dass sie “nur” in die Kontrollbedingung gelost worden sind und dadurch eher ein Nocebo- als ein Placebo-Effekt induziert werden kann [4]; [5]; [6]; [7].
Nur vorläufig als DiGA aufgenommen wurden die Programme Novego, edupression.com® und elona therapy Depression. Hierfür müssen Wirkprinzipien und Techniken, die in der beantragten DiGA zur Anwendung kommen, dargelegt und eine erste Datenauswertung im kleineren Rahmen vorgelegt werden, die Hinweise für eine Wirksamkeit bietet. Für die endgültige Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis sind RCT nötig, die für diese Programme in Arbeit sind.
Das iFightDepression-Tool
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet kostenfrei das begleitete iFightDepression-Tool an. Es wurde in einem internationalen Konsensusprozess entwickelt und durch das Institut für Hausärztliche Fortbildung als “für Patienten geeignet” zertifiziert. Beim iFightDepression-Tool ist eine professionelle Begleitung obligatorisch. Damit wird der potenziellen Schwere depressiver Erkrankungen Rechnung getragen. Zudem sind begleitete Programm deutlich wirksamer als unbegleitete [13].
Für das iFightDepression-Tool liegt eine randomisierte kontrollierte Studie mit einer aktiven Kontrollbedingung vor [12]. 348 Patienten erhielten entweder sechs Wochen das iFightDepression Tool oder ein Onlineversion der progressiven Muskelentspannung als aktive Kontrollgruppe, beide Gruppen wurden mit der gleichen Intensität begleitet. Die depressive Symptomatik in der iFightDepression-Gruppe war nach drei Monaten signifikant geringer als in der Kontrollgruppe (d = 0.28). Für den gesamten Beobachtungszeitraum von zwölf Monaten wurde in der Interventionsgruppe im Vergleich zur aktiven Kontrollgruppe eine stärkere Verringerung der depressiven Symptome und eine größere Verbesserung der Lebensqualität festgestellt.
Den Zugang zum iFightDepression-Tool erteilen die Behandler, welche den Patienten begleiten, das heißt beim nächsten Termin nachfragen, ob das Programm genutzt wurde, ob es hilft und ob Fragen aufgetaucht sind. Für das iFightDepression-Tool spricht, dass es kostenfrei ist, keine Verordnung erfordert und in 15 verschiedenen Sprachen verfügbar ist, inklusive einer ukrainischen und arabischen Sprachversion.
Um die Patienten bei der Nutzung begleiten zu können, muss der Arzt oder psychologische Psychotherapeut sich vorher mit dem Tool vertraut machen. Hierfür steht kostenfrei ein 70-minütiges Webinar zur Verfügung (www. ifightdepression.com/webinar/ ), das neben Infos zur Erkrankung Depression die Inhalte des iFightDepression Programms zeigt und Hinweise zur Begleitung gib. Nach bestandener Prüfung enthalten die Teilnehmenden zwei CME-Punkte und die Berechtigung, Patienten Zugang zu gewähren.
Bisher haben in Deutschland bereits mehr als 1.600 Behandler das Webinar durchlaufen und über 8.500 Patienten das iFightDepression-Tool angeboten. International wird iFightDepression bisher in zehn europäischen Ländern eingesetzt und genutzt.
Digitale Interventionen sind nicht als Alternative zu einer regulären Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie, sondern als Ergänzung zu verstehen. Im Rahmen der hausärztlichen Versorgung können Anwendungen wie das iFightDepression-Tool gut unterstützend eingesetzt werden.•
Erklärung zu Interessenkonflikten: Das iFightDepression-Tool wurde von der European Alliance Against Depression (EAAD) entwickelt, deren Vorstandsvorsitzender Ulrich Hegerl ist. In Deutschland wird iFightDepression von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention, einer Mitgliedsorganisation der EAAD, betrieben, kontinuierlich weiterentwickelt und evaluiert. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention ist eine unabhängige, gemeinnützige Stiftung des bürgerlichen Rechts, die sich vor allem durch Spenden, Zustiftungen, Zuschüsse und Drittmittel für Projekte und Forschung finanziert und arbeitet unter dem Vorsitz von Ulrich Hegerl.
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