© Stiftung Gesundheitswissen Prof. Ferdinand Gerlach ist Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Uni Frankfurt. Er war 16 Jahre Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit, davon elf als Vorsitzender.
Die Hausarztmedizin hat im deutschen Gesundheitswesen heute ein völlig anderes Ansehen als bei Ihrem Amtsantritt…
Das würde ich unterschreiben, ja. Das ist der Verdienst vieler, auch des Deutschen Hausärzteverbandes und der DEGAM. Die Allgemeinmedizin ist deutlich selbstbewusster geworden. Gemeinsam haben wir es geschafft, dass auch andere Fächer besser verstehen und wertschätzen, welchen enormen Beitrag Hausärztinnen und Hausärzte für die Versorgung leisten und auch, welchen akademischen Wert wir haben.
Wir sind keine Feld-Wald-und-Wiesen-Medizin, die sich die Welt von Klinikern erklären lassen muss, sondern haben eigene Forschungsvorhaben, eigene Leitlinien, eigene Lehrbücher.
An welchen Stellen wird dieses neue Standing der Allgemeinmedizin besonders deutlich?
Wir haben mittlerweile an fast allen Universitäten eine Professur für Allgemeinmedizin. Wenn endlich der Masterplan Medizinstudium 2020 umgesetzt würde, wäre die Allgemeinmedizin sogar das Kernfach der medizinischen Ausbildung.
Diese nahezu vollständige Durchdringung der Universitäten ist fantastisch. Als ich 1992 anfing, mich akademisch zu betätigen, hatte ich in den Niederlanden zum Beispiel Qualitätszirkel und eigene Leitlinien für die Hausarztpraxis kennengelernt. Dass das flächendeckend auch in Deutschland kommen würde, hätte ich damals nicht zu träumen gewagt.
Warum sind Sie dem Ruf in den Sachverständigenrat überhaupt gefolgt? Langweilig war Ihnen sicher schon damals nicht…
Ich kannte die Arbeit des Rates, da ich bereits im Hintergrund für Gutachten zugearbeitet hatte. Ich fand diese besondere Rolle des Sachverständigenrats als unabhängiges Beratungsgremium an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik schon immer hochspannend. Als ich dann gefragt wurde, habe ich ohne jedes Zögern zugesagt.
…wohl wissend, wie viel Arbeit folgen würde?
(lacht) Da habe ich mir in dem Moment nicht so viele Gedanken drüber gemacht. Wobei die vor allem mit dem Vorsitz kam. Der Vorsitzende hat im Vergleich zu den anderen Mitgliedern deutlich mehr zu tun.
Die “Gesundheitsweisen”
Der 1985 erstmals berufene Sachverständigenrat hat die Aufgabe, Gutachten zur Entwicklung der Versorgung mit ihren medizinischen und wirtschaftlichen Auswirkungen zu erstellen. Stand Februar 2023 sind 22 Gutachten erschienen. Sie werden jeweils dem Bundesgesundheitsministerium sowie Bundesrat und Bundestag vorgelegt.
Der Rat muss paritätisch besetzt sein. Die Mitglieder werden berufen; man kann sich nicht um einen Posten bewerben. Den Vorsitz wählen die sieben Mitglieder unter sich. Die aktuellen Ratsmitglieder (www.hausarzt.link/Bb1ma ) haben sich Ende Februar zur konstituierenden Sitzung getroffen.
Mit dem Krankenhauspflegeentlastungsgesetz wurde die Pflege explizit in den Titel des Rates aufgenommen: Er heißt seit Jahresbeginn “Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege”.
Warum haben Sie diese Mehrarbeit neben Ihrem Hauptjob am Frankfurter Institut für Allgemeinmedizin auf sich genommen? Welche Ziele wollten Sie erreichen?
Ich hatte nie eng definierte Ziele, die ich wortwörtlich in Gutachten unterbringen wollte. Ich hatte von Anfang an einen vergleichsweise breiten Blick, habe nie nur die allgemeinmedizinische Praxis gesehen. Und mir war schon früh klar, dass wir nur dann ein gutes Gesundheitssystem schaffen können, wenn wir alle – Haus- und Fachärzte, Kliniken und Praxen, andere Gesundheitsberufe – zusammenarbeiten.
Daher habe ich mich zu keinem Zeitpunkt als “Lobbyist” meines Faches verstanden, sondern mir war immer wichtig, dass das Gesamtsystem funktioniert.
Aus der Beobachterperspektive könnte man sie durchaus als einen der großen Lobbyisten der Allgemeinmedizin sehen.
Nein, so sehe ich mich nicht. Ich habe im Rat immer sehr vorsichtig allgemeinmedizinische Akzente gesetzt. Gerade als Vorsitzender musste ich aufpassen, ausgewogen zu bleiben. Die hausärztliche Versorgung ist die unverzichtbare Basis eines jeden Gesundheitssystems.
Jeder, auch Spezialisten und Klinikärzte, müssen ein großes Interesse daran haben, dass wir eine funktionierende Primärversorgung haben. Die Allgemeinmedizin ist unverzichtbar – aber sie ist Teil eines Systems und muss sich mehr denn je auch mit anderen vernetzen, um sich weiterzuentwickeln.
Die allgemeinmedizinische Perspektive wird künftig Prof. Stefanie Joos in den Rat einbringen. Würde ohne Allgemeinmedizinerin im Team die Gefahr drohen, dass der Rat im Elfenbeinturm verharrt?
Ja, diese Gefahr sehe ich durchaus. Auch wenn ich nicht mehr selbst täglich in der Praxis war, so habe ich doch 20 Jahre Praxiserfahrung intus, und am Institut arbeiten wir mit mehr als 300 Praxen in Forschung und Lehre zusammen. Das ist immer wieder eine Erdung und ein Abgleich mit der Realität.
Wir hatten im Rat viele kontroverse Diskussionen und es war immer wichtig, dass wir, die die Realität in Praxen und Kliniken kennen, die anderen ein Stück weit auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Man kann ausgefeilte Konzepte vorschlagen, aber man muss abschätzen, ob diese auch unter Alltagsbedingungen funktionieren. Dafür ist die Praxiserfahrung unverzichtbar.
Mit welchem Gefühl verlassen Sie den Rat?
Mit einem guten: Wir werden gehört. Zum 30-jährigen Bestehen des Rates im Jahr 2015 haben wir analysiert, wie viele der zentralen Empfehlungen des Rates bis dato von der Politik umgesetzt worden waren. Das waren damals fast die Hälfte, was ich erstaunlich viel finde.
Auch von den Dingen, an denen ich ganz persönlich mitgearbeitet habe, wurden schon zahlreiche umgesetzt oder sind bereits in der Pipeline. Im aktuellen Koalitionsvertrag sind so viele Empfehlungen von uns zu finden wie noch nie zuvor.
Manche schmunzeln, dass der Koalitionsvertrag in Teilen aus ihrer Feder stamme.
(lacht) So würde ich es nicht sagen. Aber ich hatte einen gewissen Einfluss, das stimmt. Im Koalitionsvertrag stehen etwa die umfassende Notfallreform, die E-Patientenakte als Opt-out, das Gesundheits-datennutzungsgesetz, die Klinikreform, Punkte für eine Digitalstrategie – das sind alles Dinge, die wir explizit empfohlen haben.
Der Eingang in den Koalitionsvertrag ist das eine, die Umsetzung das andere. Viele Dinge wie eben die Notfallreform waren ja auch schon im letzten Koalitionsvertrag zu finden…
…und sie ist dann gescheitert, genau. Weil die Länder sie blockiert haben und weil die Reform vielleicht nicht mit dem nötigen Nachdruck verfolgt wurde. Jetzt steht sie wieder drin und wir hoffen aufs Neue. Gesundheitspolitik bedeutet das Bohren dicker Bretter. Denn es gibt extrem viele Akteure und es bewegt sich nur etwas, wenn sich alle Akteure in eine gemeinsame Richtung bewegen. Das dauert mitunter extrem lang.
Ist das nicht frustrierend?
Wir als Rat geben Empfehlungen, aber wir sind nicht verantwortlich für die Umsetzung. Das ist Sache der Politik, die da ganz anders denken muss: Wen brauche ich, wen habe ich gegen mich, was kostet das? Der Politiker muss Mehrheiten organisieren, sowohl im Parlament als auch in der Bevölkerung oder eben bei Hausärztinnen und Hausärzten. Ich bin da realistisch.
Natürlich bin ich damit unzufrieden, dass wir nach 15 Jahren noch immer keine funktionierende elektronische Patientenakte haben oder dass der Masterplan Medizinstudium 2020 noch immer nicht umgesetzt ist. Aber weil überhaupt Bewegung in diesen Themen ist, sind das für mich keine Frustmomente, sondern letztlich Erfolgsgeschichten.
Warum sind sie zuversichtlich, dass sich bei einigen großen Baustellen nun wirklich etwas bewegen wird?
“Große Reformen sind Kinder der Not”, hat mein Vorgänger Prof. Eberhard Wille immer gesagt. Uns ging es in den vergangenen Jahren – vereinfacht gesagt – einfach zu gut. Erst jetzt kommen wir wieder in eine Situation der Not. Die Kassen sind leer, die Reserven aufgebraucht. Wir können uns nicht mehr leisten, Konflikte mit Geld zuzukleistern.
Bislang wurden Probleme gelöst, indem man jenen, die am lautesten geschrien haben, irgendwas gegeben hat. Das geht jetzt nicht mehr. Damit steigt der Druck – und die Chance für echte Strukturreformen.
Sie haben einige Minister erlebt. Wie haben die unterschiedlichen Charaktere Ihre Arbeit im Rat geprägt?
Ich habe sechs Minister erlebt. Mit manchen konnte man besser zusammenarbeiten, andere waren weniger interessiert an der Arbeit des Rates. Aber: Die Gesetze macht nicht der Minister, sondern das Parlament. Vorbereitet werden sie in der Administration, vor allem im Gesundheitsministerium.
Deswegen ist der Minister allein nicht entscheidend. Dass Karl Lauterbach die E-PA als Opt-out persönlich wichtig findet, mag beispielsweise hilfreich sein – doch ob er es tatsächlich umgesetzt bekommt, hängt von anderen Dingen ab.
Ganz konkret: Wie wird aus dem Gutachten ein Gesetz?
Üblicherweise wird das Gutachten ins Gesundheitsministerium gegeben. Jedes einzelne Referat wird dann um Stellungnahme gebeten und darf Änderungsbedarf anmelden. Beispielsweise schaut sich das Referat für Arzneimittel die Passagen für Lieferketten an. Darüber hinaus wird das Gutachten in Bundestag und Bundesrat vorgestellt, manchmal bitten einzelne Fraktionen um Erläuterungen.
Diese Arbeitsschritte nach der offiziellen Vorstellung, von denen die Öffentlichkeit in der Regel nichts mitbekommt, sind die entscheidenden: Jeder Mitarbeiter nimmt sich die Passagen des 600-Seiten-Gutachtens vor, die seinen Bereich betreffen – und daraus entstehen bestenfalls parlamentarische Gesetzesinitiativen. Ich könnte mir übrigens vorstellen, dass Empfehlungen aus unserem jüngsten Gutachten zur Resilienz in den Versorgungsgesetzen I und II zu finden sein werden.
Indem Sie nicht erneut kandidierten, wollten Sie auch Platz schaffen für eine “gewisse Erneuerung des Rates”. Warum ist diese nötig?
Ich wollte nie einer sein, der nicht loslassen kann. Nach 16 Jahren ist der Zeitpunkt für mich passend. Unsere Gutachten enthalten alle wichtigen Empfehlungen.
Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit. Da möchte ich mich jetzt einsetzen. Von der Bühne wissenschaftlicher Politikberatung abtreten werde ich also nicht.