Es sind zwei kleine Wörtchen, die bereits im Zusammenhang mit der Organspende Bekanntheit gewonnen haben: “opt out”, austreten. Bei der Organspende hätte eine solche Opt-out- oder Widerspruchslösung vereinfacht gesagt bedeutet: Jeder ist Organspender, es sei denn, er “tritt explizit aus”. 2020 hat sich der Deutsche Bundestag nach intensiver Debatte gegen eine solch weitreichende Neuregelung der Organspende entschlossen.
Nun gewinnen die Wörtchen “opt in” und “opt out” neue Aktualität: im Zuge der Diskussion um die elektronische Patientenakte. Denn der Weg zu ihr ist bislang steinig, die Zahlen lassen – ebenso wie jene der Organspender – zu wünschen übrig: Nur 0,5 Prozent der Befragten nutzen sie einer Bitkom-Umfrage zufolge bereits, obwohl rund drei Viertel aufgeschlossen ihr gegenüber sind [1].
Ein Grund könnte sein, dass die E-Akte bis dato einer “Einwilligungskaskade” gleicht: Von der Einrichtung über die Befüllung bis hin zur Nutzung muss jeder Zugriff einzeln vom Versicherten gestattet werden. Bei jedem Arztkontakt, im Krankenhaus, in der Apotheke muss er immer wieder aufs Neue zustimmen, damit ein Leistungserbringer die Akte einsehen kann und dort Daten speichern darf.
“Den Aufwand tragen im Wesentlichen die an der Versorgung beteiligten Akteure”, beobachtet Dr. Stefan Etgeton für die Bertelsmann Stiftung. Und damit auch Hausärztinnen und Hausärzte, die mit immer wieder neuen Fragen in der Praxis konfrontiert sind, wie erste Nutzerberichte zeigen (Lesen Sie dazu auch Teil 1 dieser Serie: Erste Erfahrungen von Hausarztpraxen mit der E-Patientenakte).
Ausgestaltung ist noch offen
Hoffnungen sind an die Opt-out-Lösung geknüpft. Sowohl die Bundesregierung als auch ihr Sachverständigenrat im Gesundheitswesen sowie der 126. Deutsche Ärztetag haben sich für diese ausgesprochen. “Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine elektronische Patientenakte zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out)”, schreiben SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag. [2]
Doch: “Die Aussage im Koalitionsvertrag beantwortet noch nicht die Frage, wie dieses Opt-out konkret ausgestaltet sein oder welche Funktionen es mit sich bringen soll”, weiß Charly Bunar, Produktmanager für die E-Patientenakte bei der Gematik. Geht es beispielsweise nur um den Zugriff auf die eigenen Daten – oder sollen diese auch für die Forschung genutzt werden können?
Bislang liege der Gematik noch kein offizieller Auftrag vor, eine Opt-out-Lösung zu entwickeln, betont Bunar gegenüber “Der Hausarzt”. Jedoch analysiere man vorbereitend bereits unterschiedliche Modelle, etwa aus dem europäischen Ausland.
Ministerium bereitet Gesetz vor
“Im Moment sind wir dabei, zu definieren, wie ein Opt-out im Detail aussehen könnte”, heißt es auf Anfrage aus dem Bundesgesundheitsministerium. Das entsprechende Gesetz sei in Arbeit, über die Details konnte man bei Redaktionsschluss noch keine Angaben machen.
Bunar skizziert – unabhängig von den möglicherweise noch dieses Jahr folgenden, konkreten Ausgestaltungswünschen der Regierung – schon einmal die grundlegende Änderung:
Aktuell, also bei der Opt-in-Lösung, hält jede Krankenkasse Serverkapazitäten vor, die eine E-Patientenakte für alle Versicherten abdecken können. Erst durch eine vom Versicherten ausgehende Anfrage bzw. Registrierung legt die Kasse sozusagen eine Partition auf dem Server an, die jedoch noch im Status “nicht aktiviert” verbleibt – bis zum Erstzugriff durch Versicherten oder Arzt. Dann erhält die Akte den Status “aktiv”.
Bei der Opt-out-Lösung würde für jeden Versicherten bei Geburt oder Zuzug eine Akte im Status “aktiviert” auf dem Server der Kasse angelegt. Erst durch ein aktives Eingreifen des Versicherten würde diese deaktiviert.
Eine noch offene Frage ist, ob die E-Patientenakte bei einem solchen Widerruf dann komplett gelöscht oder lediglich “passiv” verbleiben würde und zu einem späteren Zeitpunkt wieder verwendet werden könnte. In Österreich – wo nur 3,2 Prozent der Versicherten vom Opt-out Gebrauch machen [3] – würden die Daten bei einem Opt-out gelöscht, erklärt Bunar. Versicherte könnten zwar zu einem späteren Zeitpunkt wieder in das “System E-PA” eintreten, dann jedoch ohne die zuvor gesammelten Daten.
Wie kommt man an die Akte?
Doch wie genau würde die Akte zu ihren “Besitzern” – und letztlich auch in die Hausarztpraxis – kommen? Dass dazu – analog zur Steuer-ID, den Bürgern diese direkt nach der Geburt per Post zugeht – ein einfaches Schreiben ausreicht, bezweifelt Bunar aus seiner Erfahrung. “Patientendaten zählen zur Kategorie von Daten, die einen sehr hohen Schutzbedarf haben”, erklärt er.
Ganz konkret gesagt: Gelangt eine auf dem Postweg zugeteilte Steuer-ID in falsche Hände, so betrifft der Schaden “nur” die Finanzen des Geschädigten. Geschieht dies jedoch mit medizinischen Daten, kommt im schlimmsten Fall die Person selbst zu Schaden. “Das technische Schutzniveau müsste daher höher sein”, so Bunar. Dass pro forma ein Brief an jeden Bundesbürger gesendet wird, hält er daher für unwahrscheinlich.
Zauberwort “digitale Identität”
Das Zauberwort sind dabei die “Digitalen Identitäten” – ein Baustein der Telematikinfrastruktur (TI), der bislang an vielen Stellen unterschätzt geblieben ist. Das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz verpflichtet die Kassen, ihren Versicherten ab 1. Januar 2023 eine digitale Identität zur Verfügung zu stellen – zunächst nur auf Verlangen.
Ab 2024 sollte die digitale Identität dem Versicherten gleichermaßen wie die elektronische Gesundheitskarte zur Authentisierung im Gesundheitswesen und als Versicherungsnachweis dienen. Damit erhalten sie also ein Identifizierungsmittel, das nicht an eine Chipkarte gebunden ist.
Mit diesem könnten Patienten künftig selbstständig auf ihre E-Akte sowie elektronische Rezepte, Notfalldaten und Medikationspläne zugreifen. Derzeit ist jedoch nicht klar, wann dies sein wird. Im April teilte die Gematik nur mit, dass der 1. Januar 2023 nicht zu schaffen sei [4].
Zeitrahmen sehr sportlich
In der Tat nennt auch der Koalitionsvertrag kein Zieldatum, bis zu dem die E-Akte als Opt-out-Lösung umgesetzt sein soll. Ende der Legislaturperiode ist 2025, blieben folglich drei Jahre. Gegenüber “Der Hausarzt” hat Dr. Susanne Ozegowski, Digitalisierungs-Chefin im Gesundheitsministerium, jüngst an diesem Zeitrahmen festgehalten. [5]
“Ob das zu schaffen ist, steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, was für Deutschland unter Opt-out definiert wird”, sagt Bunar. Gehe es um die reine Bereitstellung der Akten, sei das sicher ausreichend. Gehe es jedoch darum, die Daten – wie zuletzt von Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach während einer Israel-Reise angedeutet – in eine Public-Health-Strategie einzubetten und für die Versorgungsforschung zu nutzen, sei dafür sicher mehr Zeit nötig. Schritt eins sei in jedem Fall jedoch, den politischen Auftrag zu erteilen, unterstreicht Bunar. “Diese Entscheidung muss der Deutsche Bundestag treffen.”
Fazit
- Die Bundesregierung strebt laut Koalitionsvertrag an, bei der E-Patien- tenakte künftig auf eine Opt-out-Lösung zu setzen. Sprich: Jeder erhält bei Geburt oder Zuzug eine E-Akte; wer diese nicht will, muss explizit widersprechen.
- Zahlen aus Nachbarländern zeigen eine hohe Akzeptanz einer solchen Opt-out-Lösung.
- Offen ist, wie umfangreich dies für Deutschland umgesetzt werden soll und wie die E-Akte zu den Versicherten kommt.
- Das Bundesgesundheitsministerium hat gegenüber „Der Hausarzt“ ein entsprechendes Gesetz angekündigt.
Literatur
- Bitkom Research, November 2021, n = 1.003, www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Drei-Viertel-wollen-elektronische-Patientenakte
- „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 2021-2025, www.hausarzt.link/RYcZe
- „Opt-out-Modelle für die Elektronische Patientenakte aus datenschutzrechtlicher Perspektive“, Bertelsmann Stiftung, DOI:10.11586/2022078, www.bertelsmann-stiftung.de/en/publications/publication/did/opt-out-modelle-fuer-die-elektronische-patientenakte-aus-datenschutzrechtlicher-perspektive
- Dtsch Arztebl 2022; 119(17): A-748 / B-616
- „Wir sehen keine Sanktionen für Ärzte vor“, Interview mit Dr. Susanne Ozegowski, www.hausarzt.digital/praxis/e-health-und-it/wir-sehen-keine-sanktionen-fuer-aerzte-vor-113468.html