© Rowohlt Einer der ersten deutschen Bestseller waren Carl Ludwig Schleichs Memoiren. Er veröffentlichte sie 1920 beim Rowohlt-Verlag: „Besonnte Vergangenheit“ wurde millionenfach verkauft.
Er schloss mit der Forderung, die Lokalanästhesie, wenn immer möglich, der Allgemeinnarkose vorzuziehen. Und zwar aus ethischen und aus strafrechtlichen Gründen. Die anwesenden Chirurgen waren empört und hielten das, was Schleich berichtet hatte, für totalen Unfug – ohne die Methode auch nur nachgeprüft zu haben oder wenigstens nachprüfen zu wollen.
Es kam zum Eklat auf dem Kongress, wie es ihn noch nie vorher gegeben hatte. Der Tagungspräsident Heinrich Adolf von Bardeleben (1819-1895) ließ abstimmen, ob jemand “von der Wahrheit dessen, was uns hier eben entgegengeschleudert worden ist, überzeugt” sei.
Niemand hob die Hand, die Chirurgen lehnten das Konzept, ja die Idee einer Lokalanästhesie ohne Gegenstimme ab. Der Tagungspräsident entzog Schleich daraufhin das Wort, und der junge Arzt verließ den Raum. Er bezeichnete sich als “gefallenen chirurgischen Engel”.
Doch schon bald kamen Ärzte, auch aus dem Ausland, in seine Privatklinik, um die Methode zu studieren. Allerdings sollte es noch einige Jahre dauern, bis sich Schleichs Methode durchsetzte. Erst 1904 bekannte sich ein führender Chirurg dazu und berichtete auf dem Chirurgenkongress über mehrere Operationen unter Lokalanästhesie. “Angemerkt sei, dass Schleich von keiner Seite je eine Würdigung oder Rehabilitierung erfahren hat”, heißt es in einem Porträt von Carl Ludwig Schleich in einer Publikation des gemeinnützigen Luisenstädtischen Bildungsvereins.
Ein Blick in Schleichs Tagebuch
Hier ein kleiner Auszug aus Schleichs Tagebuch, in dem er seine Erlebnisse als Medizinstudent in Zürich beschreibt:
“Übrigens muß ich gestehen, daß mir der Eintritt in die Vorhallen der medizinischen Wissenschaft einen geradezu schaurigen und abstoßenden Eindruck machte. Die Unsauberkeit im Anatomiesaal, das Herumliegen von zerschnittenen Verstorbenen, die Roheit der Wärter, welche die Leichen der Unseligen herbeischleppten, der üble Duft und die Wühlarbeit der Medizinmäuse in den bisher nie geschauten, nun enthüllt liegenden inneren Teilen, Schädel ohne Augen, spiegelnde Gehirne, zerschnittene Herzen – das alles zusammen mit einer geheimen Ahnung von dem Frevel eines allzu populären Wissensdurstes, der sich an den Leibern der Verfemten, Namen- und Heimatlosen, dem Freiwild von Verbrechertum, Armut und tiefer Gesunkenheit Genüge tat – wohl auch eine innere Unruhe über die Gefahr einer Blutvergiftung –, das alles erfüllte mich mit tiefem Grauen!… Aus Mitleid wollte ich Tor ein Arzt der Leidenden werden, und hier stand ich entsetzt vor einer Lehrstätte, ja einem Kultus der grausamsten Gleichgültigkeit gegen Leid und Tod. Wann wird es Anatomen und Physiologen geben, die in vollem Bewußtsein der Fürchterlichkeit ihrer Arbeit dem Novizen der Heilkunde schon hier die ersten Schritte leichter machen durch freundliches Zureden und einen besänftigenden Hinweis auf das hohe humane Ziel und wenigstens hier und da einmal den Versuch wagen, so etwas wie eine Lehre von Mitleid mit der leidenden Kreatur in die Herzen der noch empfindsamen jungen Leute zu senken?”
Aus Mitleid ein Arzt der Leidenden
Carl Ludwig Schleich wurde 1859 in Stettin geboren. Er wuchs in einer Arztfamilie auf. Sein Vater war angesehener Augenarzt, die Brüder seiner Mutter waren ebenfalls bekannte Ärzte. Auf Drängen seines Vaters studierte Schleich Medizin. Obwohl er sich eher als Künstler verstand, als Schriftsteller, Maler und vor allem als Musiker (er war ein äußerst begabter Sänger und Cellist). Doch er gab nach. Sein Ziel war, “aus Mitleid ein Arzt der Leidenden” zu werden.
Schleich ging zunächst nach Zürich zum Medizinstudium. Hier freundete er sich mit dem Schweizer Dichter Gottfried Keller (1819-1890) an. Für den war Schleich “der Dütsche, der so wunderherrlich suffe cha”. Später famulierte Schleich in Berlin unter anderen bei Ernst von Bergmann (1836-1907) und Rudolf Virchow (1821-1902). 1886 schloss er das Studium in Greifswald ab.
Nach einer kurzen Zeit als Assistenzarzt gründete er 1889 die chirurgische Privatkrankenanstalt, an der er besagte Methode der lokalen Infiltrationsanästhesie entwickelte. 1901 wurde er zum Professor und zum Geheimrat ernannt. Doch das Desaster auf dem Chirurgenkongress machte eine akademische Karriere unmöglich. 1900 wurde Schleich Oberarzt am neu errichteten Kreiskrankenhaus Teltow in Berlin. Schon innerhalb eines Jahres schied er wegen Differenzen mit dem leitenden Arzt aus. Auch aus seiner Privatklinik zog er sich immer weiter zurück. Der “Arzt der Leidenden” war wohl abgestoßen vom System und von der Ignoranz der Chirurgen-Kollegen. Mehr und mehr widmete er sich nun seiner ursprünglichen Liebe: der Kunst.
Ganz vorbei war sein Arzt-Dasein nicht. Während des Ersten Weltkriegs, von 1914-16, leitete Schleich das Berliner Lazarett am Reichskanzlerplatz. Er verfasste außerdem Beiträge zur Kriegschirurgie, zur Wundheilung und zur Hysterie.
Vom Arzt zum Dichter-Philosophen
Doch die Kunst wurde in seinem Leben immer wichtiger. Schon als junger Mann war der Sänger und Cellist Schleich ein gern gesehener Gast der Berliner Salons um die Jahrhundertwende. Neben seiner Arbeit als Arzt war Schleich Teil der Berliner Künstler-Bohème. Es selbst sagte von sich, er sei “ein bürgerlicher Renegat und ein bummelnder Bourgeois”. Er schrieb musiktheoretische Studien, Novellen und Dramen, und er komponierte.
Später freundete er sich mit dem Dichter Richard Dehmel (1863-1920) und vor allem mit dem schwedischen Schriftsteller August Strindberg (1849-1912) an, den er Anfang der 1890er Jahre kennenlernte. Unter Strindbergs Einfluss verfasste Schleich Dichtungen und psychologisch-philosophische Schriften: Schleich wurde zum “Dichter-Philosophen”. Als der war er bei seinen Zeitgenossen sehr beliebt. In seinen populärwissenschaftlichen und lebensphilosophischen Schriften kritisierte er zunehmend die rein naturwissenschaftliche Ausrichtung der Medizin.
Bekannt war Schleich auch für seine Aphorismen wie: “Der Weise ist ohne Humor undenkbar, weil er weiß, dass es Wissen über dem Verstande gibt.” Passend zu unserer schwierigen Zeit sind zwei weitere von Schleichs Aphorismen: “Uns fehlt eine Politik der Liebe, eine Partei des Sichverzeihens.” Und: “Es ist ein Tasten in der Welt, als wären wir alle abgestürzt und suchten in der Finsternis nach irgendeinem Stützpunkt zum Aufschwung.”
Vor 100 Jahren, am 7. März 1922, starb Schleich bei einem Sanatoriums-Aufenthalt in Saarow-Pieskow.
Quellen u.a.:
Hess, Volker, “Schleich, Carl Ludwig” in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007)
Meyer, Bernhard: “Von der Fachwelt ignoriert. Der Arzt Carl Ludwig Schleich (1859-1922)”. Edition Luisenstadt 1999.
Schleich, Carl Ludwig: “Besonnte Vergangenheit: Lebenserinnerungen 1959-1919”. Projekt Gutenberg-DE