Sind Sie als Studierender gerne „in die Lehre gegangen“?
Prof. Stefan Bösner: Nein. Als ich studierte, bin ich viel ins Ausland gegangen, vor allem nach Großbritannien, weil dort die Ausbildung wesentlich praxisorientierter war. Damals war die Lehre an den deutschen Universitäten sehr theorielastig, wenig am Patienten und auch wenig an den reellen Problemen der Versorgung orientiert. Wir sehen ja nicht nur Patienten, denen die Krankheit auf die Stirn geschrieben steht, wie es im Lehrbuch steht. Aber das ist zwanzig Jahre her, da hat sich Vieles zum Positiven verändert.
Haben Sie Ihre eigenen Erfahrungen motiviert, akademisch tätig zu werden?
Durchaus. Ich versuche heute die Lehre zu machen, die ich als Studierender gerne gehabt hätte. Damals habe ich natürlich nicht geahnt, dass ich jemals wieder an der Universität arbeiten würde. Ich wollte länger im Ausland, in Afrika arbeiten, habe das auch gemacht, habe nach der Facharztausbildung sieben Jahre im Sudan, mitten im Kriegsgebiet, gearbeitet. Vor zwölf Jahren bin ich aus familiären Gründen zurück nach Marburg gegangen. Gute Lehre war aber nicht der einzige Grund, zurück an die Universität zu gehen.
Welche Gründe gab es darüber hinaus?
Ich wollte das Thema Global Health an der Universität einbringen, das liegt mir durch meine Auslanderfahrung am Herzen. Parallel zu meiner Zeit im Sudan habe mich in Tropenmedizin in Liverpool und Public Health in London fortgebildet. Damit bot es sich für mich an, zusätzlich zur Tätigkeit in der Praxis auch akademisch zu arbeiten. Neben dem Wunsch nach guter Lehre war dies für mich die zweite Motivation.
Warum arbeiten Sie zusätzlich zur akademischen Lehre als Hausarzt und im Notdienst?
Mir ist es für die Aktualität meiner Lehre wichtig, ein breit gefächertes Patientenklientel zu sehen. Diese direkte Anbindung erreiche ich nur, wenn ich selbst in der Allgemeinmedizin tätig bin. Abgesehen davon macht es mir auch einfach Spaß, hausärztlich tätig zu sein.
Was machen Sie selbst in der Lehre heute anders?
Wir wollen Begeisterung wecken mit Inhalten und mit Role Models. Wir versuchen heute einen Großteil unserer Lehre orientiert an Beratungsanlässen zu gestalten; davon ausgehend lernen die Studenten Diagnostik und Therapie.
Ich habe ein breites Lehrportfolio mit vielen Wahlpflichtfächern und Kursen. Ich biete zum Beispiel vor Beginn des Wintersemesters das Blockseminar Global Health an, in dem es um Gesundheitsversorgung in anderen Nationen geht. Mein Seminar „Differenzialdiagnose in der Primärversorgung“, das im Jahr 2012 mit dem Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre ausgezeichnet worden ist, ist ein Selbstläufer. Es folgt dem didaktischen Prinzip des Inverted Classroom-Modells. Die Studenten schauen sich zur Vorbereitung meine Videos mit den Lehrinhalten an, im Seminar arbeiten wir dann ausschließlich interaktiv und an Beratungsanlässen orientiert mit Schauspiel-Patienten. Ich bekomme immer wieder Überraschung rückgemeldet, wie vielfältig und spannend die Allgemeinmedizin ist. Es ist essenziell, Studenten für unser Fachgebiet zu begeistern.
Woran erkennen Sie, dass Sie Ihre Studenten gepackt haben?
Ich merke es an der Dynamik im Unterricht, an der direkten Rückmeldung, an den Anmeldezahlen zu meinen Angeboten in den Wahlpflichtfächern. Diese sind teilweise schon ein Jahr im Voraus ausgebucht. Ich erbitte am Ende des Semesters Rückmeldung im direkten Gespräch mit meinen Studierenden. Und wir evaluieren all unsere Angebote schriftlich, hier bekommen wir zusätzliche objektive Rückmeldung. Diese binde ich, wo es möglich, begründet und sinnvoll ist, in meine künftigen Lehrangebote ein.
Wie begehrt ist Ihr Schwerpunktcurri-culum „Primärversorgung“?
Die zwölf Plätze sind immer ausgebucht. Wir rekrutieren pro Jahr maximal zwölf Leute, mehr schaffen wir nicht. Wir haben damit immer um die 50 Studenten, die wir intensiv begleiten. Das erste klinische Angebot findet bereits in der Vorklinik statt, orientiert an den Reformstudiengängen. Insgesamt läuft das Curicculum über fünf Jahre, und die erste Kohorte bekommt im November ihre Abschlusszeugnisse.
Und das Ziel ist, die Studierenden in die hausärztliche Versorgung zu bringen?
Wir versuchen, für unser Fach zu begeistern und für Primärversorgung in unterversorgten Gebieten Interesse zu wecken. Wir haben viele Referenten außerhalb der Universität, die ihren Beruf leidenschaftlich vertreten.
Entwickeln Sie das Curriculum noch weiter?
Wir haben im vergangenen Herbst zum ersten Mal einen Kongress veranstaltet, zu dem auch die Mentoren der Curriculum-Studierenden geladen waren. Das ist sicher etwas Besonderes, dass diese über mehrere Jahre von einem erfahrenen Mediziner begleitet werden. Diese praktizieren alle in ländlichen, unterversorgten Gebieten. Im kommenden Wintersemester bieten wir erstmals das neue Format „meet the doc“ an, ein Sofa-Gespräch mit einem niedergelassenen Allgemeinmediziner.
Zur Person
Prof. Stefan Bösner (51) ist Allgemeinmediziner und Gesundheitswissenschaftler. Er hat in Würzburg und Marburg studiert und promoviert, sich in Liverpool in Tropenmedizin weitergebildet und in London einen Master in Public Health absolviert. 2012 habilitierte er sich im Fach Allgemeinmedizin, seit 2016 hat er eine Professur an der Philipps-Universität Marburg. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen auf Versorgungsforschung, klinischer Forschung zur primären Gesundheitsversorgung sowie der Entwicklung von Instrumenten, die standardisiert bei der klinischen Entscheidungsfindung unterstützen, etwa dem „Marburger Herzscore“. Zudem leitet er an der Abteilung für Allgemeinmedizin in Marburg den Bereich Lehre. Hierzu gehört die begleitende Lehrforschung genauso wie Lehrveranstaltungen. 2012 erhielt er für das Seminar „Differentialdiagnose in der Primärversorgung“ den Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre.