Wenn sich die kulturelle Prägung der Patienten von der des Hausarztes und seiner Mitarbeiter unterscheidet, bringt dies vielfältige Probleme in der Praxis mit sich. Durch die Betreuung der steigenden Zahl an Flüchtlingen gehören interkulturelle Fragen inzwischen also zum Alltag in so gut wie jeder Hausarztpraxis.
Das heißt auch: Unterschiedliche Erwartungen an Ärzte und Medizinische Fach-angestellte (MFA), verschiedene Kommunikations- und Verhaltensweisen sowie alltagspraktische Gewohnheiten treffen aufeinander. Besonders Ärztinnen und weibliche MFA erleben in der Praxis offenbar größere Herausforderungen als männliche Kollegen, wie Erfahrungsberichte im ersten KIIK-Seminar zur Interkulturellen Kompetenz in der Arztpraxis beim IHF-Kongress in Mannheim zeigten.
Viele Frauen erzählten von Irritationen im Umgang mit männlichen Patienten, die im Zuge der Flüchtlingsbetreuung in die Praxen kommen. So wollten männliche Patienten Ärztinnen nicht die Hand geben oder sich nur von einem Arzt behandeln lassen. Andere verweigerten der MFA die Auskunft, weil sie "nur mit dem Doktor" sprechen wollten.
Anders als bei Patienten/innen, die das deutsche Gesundheitssystem und die hausärztlichen Routinen kennen, kann man bei Flüchtlingen und Migranten das Wissen über Begrüßungsformeln, den Ablauf von Anamnese und körperlicher Untersuchung oder Verschreibung und Einnahme von Medikamenten nicht voraussetzen. Hausärzte wie MFA müssen also viel Sensibilität zeigen, für sie Selbstverständliches erklären und sich bewusst machen, wie eigene Routinehandlungen auf Patienten wirken, denen das nötige Vorwissen fehlt.
Aber müssen sich insbesondere Ärztinnen deswegen neu erfinden? Muss im Namen der "Willkommenskultur" der Verhaltenskodex in Arztpraxen neu geschrieben werden? Bedeutet interkulturelle Kompetenz, seine eigenen Werte, Überzeugungen und Haltungen abzulegen?
Fremdes Verhalten einordnen
Mit interaktiven Übungen erklärte der Workshop, wie Kultur menschliches Verhalten beeinflusst. So zeigt das Modell der "Kulturdimensionen" nach Hofstede etwa kulturelle Orientierungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft auf. Kennen Ärzte solche kulturellen Orientierungen, können sie fremdes Verhalten, aber auch eigene Reaktionen besser einordnen und somit das Irritationsniveau niedrig halten.
Ein Beispiel: Vergleicht man Deutschland und Syrien (Abb. 1) fällt ein großer Unterschied bei den Dimensionen "Machtdistanz" und "Langzeitorientierung" auf. Was bedeutet das für Ärzte? In Syrien sind hierarchische Strukturen üblicher als in Deutschland, was sich auch im Arzt-Patienten-Verhältnis widerspiegelt. Patienten bringen Ärzten als Fachkraft großen Respekt entgegen, das kann die Kommunikation erschweren, denn: Was nicht gefragt wird, wird auch nicht gesagt. Der Arzt "muss doch wissen, was mir fehlt", entsprechend erwarten Patienten, dass der Arzt handelt – zum Beispiel ein Medikament verschreibt. Die unter deutschen Hausärzten übliche Langzeitorientierung bei der Behandlung, wozu auch gehört, in manchen Fällen erstmal abzuwarten, kann dann auf Unverständnis bei Patienten treffen.
Eine andere Erklärung gibt es dafür, warum besonders Ärztinnen und MFA von Irritationen betroffen sind. Dem können unterschiedliche Erwartungen an die Rollen der Geschlechter zugrunde liegen (Abb. 2). In manchen Kulturen haben Männer und Frauen sehr unterschiedliche Rollen, in anderen wird Wert auf geringe Unterschiede gelegt.
Arzt-Rolle betonen
Wenn wir solche Prägungen einbeziehen, können wir Situationen (wie den beschriebenen) distanzierter und entspannter begegnen und nehmen das Verhalten des Gegenübers weniger persönlich. Wir können dann bewusst überlegen, wie wir mit Patienten aus anderen Kulturen umgehen können: Treffen Ärztinnen auf männliche Patienten, die an starke Unterschiede zwischen den Geschlechterrollen gewöhnt sind, können sie bewusst die professionelle Arzt-Rolle betonen. So könnten sie etwa extra einen Arztkittel tragen, auch wenn sie dies in der Praxis sonst nicht tun, oder Handschuhe und Mundschutz anziehen.
Anders bei Ärzten, die zum Beispiel (junge) Patientinnen untersuchen. In manchen Kulturen wird es als unangemessen und beschämend empfunden, wenn junge Frauen sich allein mit einem Mann im Zimmer befinden – das gilt unter Umständen auch für das ärztliche Behandlungszimmer. In diesem Fall könnten Ärzte eine weibliche MFA hinzuziehen oder die Tür etwas offen lassen, um zu signalisieren: Hier passiert nichts "Unerlaubtes".
Fazit
Interkulturelle Kompetenz bedeutet also nicht, dass wir unsere Werte verleugnen müssen, um mit anders "tickenden" Menschen auszukommen. Das Wissen über Unterschiede versetzt uns aber in die Lage, sachlich über unsere Werte und Vorstellungen zu reden, sie zu erklären und die Basis für ein besseres Verständnis zu schaffen. Es reichen oft ein, zwei Sätze, um eben das – für uns – Selbstverständliche zu erklären, tief verwurzelte Bilder in uns wieder an die Oberfläche zu bringen, um eine Brücke zu bauen.
KIIK
Das Kölner Institut für interkulturelle Kompetenz e.V. (KIIK) bietet hochwertige, wissenschaftlich fundierte Fortbildungen und Beratungen zu Migration und Integration, Diversität und interkulturelle Kompetenz an. Es wurde 2005 als Ausgründung des Forschungsschwerpunkts "Interkulturelle Kompetenz" der Fachhochschule Köln (seit 2015: Technische Hochschule Köln), einer der führenden akademischen Einrichtungen für die interkulturelle Thematik in der Bundesrepublik, ins Leben gerufen und kooperiert seitdem eng mit der Hochschule. Die Dienstleistungen und Materialien des KIIK zeichnen sich durch wissenschaftliche Fundierung, Praxisnähe und Alltagsrelevanz aus. Mehr: www.kiik.eu