Medizinische Überversorgung ist in vieler Munde, wenn sich auch viele nicht darüber einig sind, wann und wo sie eigentlich vorliegt. Relativ unstrittig ist, dass bei Überversorgung das medizinische Angebot am Bedarf und am Patientennutzen vorbeigeht, und die Patienten vermeidbaren Belastungen und auch Risiken durch Überdiagnostik oder Übertherapie aussetzt. Inzwischen fokussiert die internationale Diskussion aber auch darauf, dass überflüssige Diagnostik oder Therapie auch direkt Fehlerketten in Gang setzen kann, die schwerwiegende Folgen haben können. Darauf möchten wir Ihren Blick lenken.
Ausnahmsweise gehen wir dabei von einem amerikanischen Fehlerbericht aus (s. unten), da wir in www.jeder-fehler-zaehlt.de einen so klaren Verlauf bisher nicht gefunden haben. Eine ältere Frau mit fortgeschrittener Demenz wird mit unspezifischen Symptomen in die Notaufnahme gebracht, zunächst auf einen Harnwegsinfekt und dann auf einen Zufallsbefund (erhöhter Troponin I-Wert) hin antikoagulativ sehr aggressiv behandelt, was sie mit den Zeichen einer ausgedehnten Hirnblutung nicht überlebt.
Die einzelnen diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen müssen natürlich detailliert im Sinne einer Ursachenanalyse aufgearbeitet werden. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass es neben Fehlentscheidungen an den einzelnen Knotenpunkten auch um den Eindruck geht, dass die Patientin Opfer von Routinen geworden ist, gegen die man gezielt andenken muss. Die Kommentatoren des Falles D.J. Morgan und A. Foy führen im Einzelnen auf:
- Beschwerden, die zu einem Harnwegsinfekt passen würden, werden nicht erwähnt, wobei allerdings unklar ist, ob sie in ihrem Zustand diese hätte äußern können. Eine unsymptomatische Bakteriurie wird sie als Heimbewohnerin mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gehabt haben, ohne dass diese sinnvoll zu ‚kurieren’ wäre. * Andere Ursachen für Verwirrung und Schwäche: Auswirkungen von Multimedikation, Infektionen oder einfach eine Verschlechterung der Demenz, wären nur aufwendiger zu eruieren gewesen.
Einen gewissen Knotenpunkt in diesem Bericht stellt in jedem Fall der Troponintest dar. Warum er erfolgte, erschließt sich aus dem Fallbericht nicht: Es gab keine Beschwerden und das EKG war unauffällig. Vermutlich war er routinemäßiger Bestandteil eines Notfallprotokolls, einer „Laborlatte“. Hierzu geben die Kommentatoren zwei wichtige Zusatzinformationen:
- Testcharakteristika: Der Troponintest (auch neuere ‚hochspezifische’) ist fehleranfällig (Laborfehler, andere Ursachen als Myokardinfarkt). Wenn dann die Vortestwahrscheinlichkeit gering ist, summieren sich nahezu alle falsch-positiven Testresultate zu unrichtigen Diagnosen. Hinzu kommt, dass sich viele Ärzte schwer tun, die statistische Aussagekraft der von ihnen eingesetzten Tests einzuschätzen.
- Verbreitung: Es werden Studien aus den USA zitiert (aus Deutschland sind uns entsprechende Daten nicht bekannt), nach denen bei 17 Prozent aller Notfallpatienten ein Troponintest gemacht wird. Unter den danach aufgenommenen Patienten hatte ein Drittel (35 Prozent) keine Indikation (Infarktsymptomatik) für den Test.
Erst beide Informationen zusammen ergeben die brisante Mischung: Der Test ist (unspezifisch) verbreitet und ergibt zahlreiche falsch-positive Resultate. Denkt man dann noch den dritten Aspekt dazu: die ärztliche Motivierung (man möchte nichts übersehen, auf der sicheren Seite sein…), zeichnen sich Triebkräfte von Überversorgung ab.
Eine wichtige Folgerung ist, dass der Test unter diesen Umständen nicht hätte gemacht werden sollen.
Von diesem Punkt an geht der weitere Verlauf eigentlich ‚downstream’ – es ereignen sich Folgen, die zu erwarten sind. Ein kritischer Punkt ist dabei natürlich, dass ein Kardiologe quasi per Ferndiagnose und -behandlung eine Tripeltherapie einleitet. Es ist nicht berichtet, dass er die Patientin je gesehen hat. Aber auch in dem Fall und auch wenn er von der These eines wie auch immer verborgenen Koronarsyndroms ausgegangen wäre, hätte er das erhebliche Komplikationsrisiko seiner Therapie bei dieser Patientengruppe abwägen müssen.
Für unsere Fallbetrachtung soll es darauf aber weniger ankommen. Wir haben den Fall deswegen ausgewählt, um auf typische Konsequenzen von Maßnahmen der Überversorgung hinzuweisen.
- Nicht indizierte Diagnostik (ganz gleich ob aus defensiven oder routinebasierten Gründen) erhöht den Anteil falsch-positiver Befunde und damit diagnostischer Fehleinschätzungen.
- Nicht-indizierte Diagnostik führt zu weiterer (nicht besser begründeter) Diagnostik und Übertherapie.
- In allen diesen Fällen sind weitere Fehler zumindest erleichtert.
Der vorliegende Fall stammt aus der stationären Versorgung (wenn auch direkt an der Schnittstelle zur Hausarztpraxis gelegen) – wir würden uns freuen, wenn Sie auf diesen Anstoß hin auch analoge Probleme von Überversorgung oder Überdiagnostik aus der hausärztlichen Versorgung unter www.jeder-fehler-zaehlt.de berichten!
Fazit
Diagnostische Tests erhöhen nur die Sicherheit, wenn Hausärzte die Aussagekraft richtig einzuordnen wissen. Hier besteht aber bei vielen Unsicherheit, wie Studien zeigen. Ein kritischer Umgang mit Tests ist gerade für Hausärzte wichtig, sind sie doch mit einem unausgelesenen Patientengut konfrontiert. Viele Tests können zwar ein geringes Maß an mehr Sicherheit bringen, man nimmt dafür aber meist deutlich mehr Unsicherheit aufgrund falsch-positiver Befunde in Kauf. Um Patienten gut zu beraten, ist es also wichtig, sich mit evidenzbasierter Medizin zu befassen.
Fallbericht #401
aus dem Patient Safety Network der AHRQ WebM&M. Ein Bericht aus einer Notaufnahme:
Was ist passiert?
Eine Patientin, 76 Jahre, mit Bluthochdruck, Diabetes und fortgeschrittener Demenzerkrankung wird mit den Zeichen von Verwirrung und allgemeiner Schwäche in die Notaufnahme gebracht.
Nach kurzer körperlicher Untersuchung wird auf einen Harnwegsinfekt entschieden und sie mit einem Antibiotikum versorgt. Parallel wird ein Labor gemacht, dabei fällt ein leicht erhöhter Troponin I-Wert (0.10 g/mL) auf. Das EKG ist unauffällig (ohne Ischämiezeichen). Sie klagt weder über Atemnot noch Brustschmerz.
Der aufnehmende Arzt kontaktiert den Kardiologen, der (offenbar ohne die Patientin gesehen zu haben) eine Tripeltherapie mit ASS, Clopidogrel und Heparin empfiehlt, was auch durchgeführt wird.
Am Folgetag bleibt die Patientin verwirrt, das Troponin steigt noch etwas an (0.12-0.13 g/mL), das EKG bleibt unauffällig und der Kardiologe empfiehlt die Fortsetzung der Therapie. Am Abend nimmt die Verwirrtheit zu, und als dann ein Schädel-CT angefordert wird, zeigt sich eine ausgedehnte Hirnblutung mit Mittellinienverschiebung. Sie wird beatmungspflichtig. Jetzt wird die Tripeltherapie abgebrochen. Dennoch verschlechtert sich der Zustand weiter, sie wird komatös.
In Absprache mit der Familie wird die Intensivpflege beendet und die Frau stirbt kurze Zeit später.
Übersetzt und gekürzt nach https://psnet.ahrq.gov/webmm/case/401/consequences-of-medical-overuse
Gibt es aus Ihrer Erfahrung ein Beispiel von Überdiagnostik oder Übertherapie, das Sie nicht loslässt und Sie berichten können – und welche Folgerungen Sie gezogen haben? Teilen Sie es mit Ihren Kollegen unter: www.jeder-fehler-zaehlt.de
Mehr Literatur
Unter Patient Safety Network der AHRQ WebM&M (Morbidity and Mortality Rounds on the Web) finden Sie eine große Zahl von Fallberichten (englischsprachig, meist aus dem klinischen Bereich) mit jeweils sehr gründlichen Kommentierungen.
Speziell zum Thema Überversorgung (‚Less is More’) finden Sie im Fachorgan JAMA Internal Medicine eine Serie ‚Teachable Moment’ mit einer inzwischen großen Zahl ähnlicher Fallberichte, z.B. https://hausarzt.link/eQatT (Zugang nicht frei).
Mit Überversorgung beschäftigen sich die (spezialistischen) deutschen Medizinischen Fachgesellschaften unter https://hausarzt.link/FqCL4. Zur Initiative „Gemeinsam klug entscheiden“ ist zuletzt eine Serie im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht worden.
Die DEGAM erarbeitet derzeit eine Leitlinie zur Überversorgung, die voraussichtlich im Herbst veröffentlicht wird.