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Praxis WissenSchuldzuweisung verschleiert Fehlerursache

Die Angst davor, zum Sündenbock zu werden, ist eine der größten Hürden, Fehlerberichts- und Lernsysteme zu nutzen. Zudem erschwert es, die Ursache der Fehler zu suchen und gemeinsam zu beheben. Eine Studie gibt Einblick, wo Schuldzuweisungen besonders häufig vorkommen.

Fehlerbericht #842

Was ist passiert?

Meine Kollegin hatte ein ­Telefonat von einer Frau angenommen, die berichtete, ihre Mutter (über 80 Jahre, vask. Grunderkrankung) ­hätte am Vortag Sprachschwierigkeiten gehabt, welche sich dann ­jedoch wieder zurückgebildet hätten. Da die Probleme am Tag des Telefonats erneut kurz aufgetreten waren, wollte sie nun einen Termin in der Sprechstunde für ihre Mutter vereinbaren.

In Gedanken an einen Apoplex hatte sich die Tochter am Vortag wohl schon an den für ihre Mutter zuständigen Pflegedienst gewandt, welcher ihr aber anscheinend versicherte, dass die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering wäre.

Das Telefonat fand vormittags statt und die Patientin und ihre ­Tochter wurden von meiner Kollegin für den späten Nachmittag in die Sprechstunde einbestellt.

Was war das Ergebnis?

Die Patientin wurde erst mehrere Stunden nach dem Telefonat einbestellt und dann nach kurzer Zeit in der Praxis mit V.a. Apoplex ins Krankenhaus eingewiesen.

Als wenige Tage später der Entlassungsbrief kam, stellte sich heraus, dass die Patientin tatsächlich einen Schlaganfall hatte.

Die Zeitverzögerung war ein unmittelbares Risiko für die Patientin.

Mögliche Gründe, die zu dem ­Ereignis geführt haben können?

Bei der Schilderung von solch spezifischen Beschwerden, ist es normalerweise Usus, den Anrufer direkt mit einem der Ärzte zu verbinden, um Zeitverlust zu vermeiden und den Patienten ggf. direkt von Zuhause aus per RTW ins Krankenhaus zu schicken.

Diese Vorgehensweise ist in der Regel allen in der Praxis bekannt. Ich kann mir höchstens ­vorstellen, dass meine Kollegin mit dem Thema nicht so vertraut ist, da sie ­ihre Ausbildung in einer HNO-Praxis absolviert hat, allerdings führen wir regelmäßige Notfallschulungen durch und jene Symptome, die auf eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung hindeuten, sollte meiner Meinung nach jede/r kennen.

Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?

Rücksprache mit der zuständigen Kollegin, Gespräch zwischen der Kollegin und einem der Ärzte über den potenziell tödlichen Ausgang der Geschichte.

Blame-free culture

Es liegt stets nahe, unerwünschte Ereignisse als Ausnahme von den regelhaft guten Abläufen und der Versorgungsqualität aufzufassen, und demgemäß auch die ‚Schuld daran’ zu personalisieren. Häufig hat man ein Gegenüber, das an dem Ereignis beteiligt ist. Und indem man diesem die Schuld zuweist, hat man gleichzeitig noch bestätigt, dass ‚die Ordnung’ als solche ja in Ordnung und fehlerfrei ist. Vor allem in großen Organisationen wie Kliniken oder an Sektorengrenzen, wo sich Klinikärzte und Niedergelassene gegenüberstehen, kann dies sehr bedeutend werden. Daneben gibt es auch den Fall, dass der Berichtende selbst die ‚Schuld’ auf sich nimmt – möglicherweise fälschlich, aber mit sehr negativen Folgen für sein Selbstbewusstsein und mit der Angst vor Sanktionen.

Aus der Wissenschaft des Fehlermanagements wissen wir, dass all dies ein wenig zielführender Weg ist (‚blame and shame-free culture’). Schuldzuweisungen an andere verstellen in der Regel die Erkenntnis kritischer Situationen, lassen systembedingte Mängel und entsprechende Lösungswege nicht erkennen. Dem möchten wir hier etwas weiter nachgehen, weil zumindest die Angst vor Schuldzuweisungen und Sanktionierung tatsächlich eine wesentliche Barriere der Nutzung von Fehlerberichts- und Lernsystemen zu sein scheint.

Wann kommt es häufig zu Schuldzuweisungen?

In einer jüngst erschienen Arbeit von Cooper et al. 2017 [1] wurde in der weltweit größten (allerdings nicht frei zugänglichen) Fehlerdatenbank aus der ambulanten Versorgung, der des britischen National Reporting and Learning Systems, dieser ­Frage nachgegangen. In diesem Berichtssystem werden aus der ambulanten Versorgung ziemlich wenige (man vermutet unter ein Prozent) der kritischen Ereignisse berichtet, aber dies summiert sich auf mehr als 42.000 in der Berichtsperiode, von denen 2.148 auswertbar waren.

Die Autoren fanden, dass in 42 Prozent der Berichte Schuldzuweisungen an andere stattfanden oder berichtet wurden (und nur in zwei Prozent die eigene Schuld eine ­Rolle spielte). Besonders häufig war dies, wenn es um Entlassungsplanung, Kommunikation, Überweisungen oder Diagnostik ging, also Probleme, bei denen mehrere kooperieren. Ebenfalls häufig waren diese Schuldzuweisungen, wenn bei den kritischen Ereignissen Teamfaktoren oder Organisationsbedingungen als beitragende Faktoren genannt wurden. Gerade dies deutet darauf hin, dass man dort von einer blame-free Fehlerkultur doch noch ein Stück entfernt ist.

Diese Befunde geben Anlass, sich die Problematik von Fehlerberichten und Schuldzuweisungen genauer vor Augen zu führen. Nicht immer ist es so, dass hier einfach ein Sündenbock gesucht wird, die Problematik reicht tiefer in Risikomanagement und Fehlerkultur hinein.

Ablenkung von Fehlerursachen

Im Fehlermanagement wird allgemein kritisiert, dass Schuldzuweisungen von möglichen systematischen Fehlerursachen (‚Systemversagen‘) ablenken. Da sich ­jeder Handelnde darüber klar sein muss, dass Menschen Fehler machen, müssen diese systematischen Fehlerursachen identifiziert werden, um zu verhindern, dass Fehler sich ausbreiten und zu Schäden führen können und sich wiederholen.

Persönliche Verantwortlichkeiten müssen in Kooperationssystemen geklärt sein – durch Schuldzuweisungen werden diese aber oft isoliert und personalisiert. Die wirklichen Ursachen werden verschleiert – nämlich ob diese Verantwortlichkeiten wirklich tragfähig für einen fehlerfreien (oder –toleranten) Ablauf sind. Oft reproduzieren sich in den kritischen Ereignissen falsche Praktiken, unzureichende Zuständigkeiten etc. ‚Das nächste Mal besser aufzupassen‘ reicht dort nicht als Lösung.

Hinzu kommt: Arbeitet ein Team gemeinsam ein kritisches Ereignis auf, führen Schuldzuweisungen zu einer Entsolidarisierung, was eine gemeinsame Suche nach einer Lösung oder Bewältigung erschwert. Im Extremfall, bei einer schlechten Fehlerkultur, ‚entschulden‘ sich alle auf Kosten­ ­eines ­Einzelnen, der das Pech hatte, nicht nur eine Sache falsch gemacht zu haben, sondern auch die Schuld dafür zugewiesen zu bekommen. Lösungen im Team wie eine bessere Unterstützung, intensiviertes Training und Supervision usw. kommen dann gar nicht in den Blick.

Fehlverhalten benennen

Dessen ungeachtet muss natürlich gravierendes persönliches Fehlverhalten als solches benannt und ggf. auch sanktioniert werden – auch das beinhaltet eine blame-free Fehlerkultur.

Besonders an Schnittstellen wird durch personalisierte Schuldzuweisungen (‚Der Assistenzarzt auf Station hat …‘) der Konflikt zwischen unterschiedlichen Organisationsbedingungen und Sichtweisen verschleiert. Gerade hier käme es aber darauf an, im gemeinsamen Gespräch nach optimierten Lösungen zu suchen.

In unserem Beispielbericht steht die Schuldzuweisung nicht im Vordergrund, dennoch wird das Problem, hier einen Notfall übersehen zu haben, auf eine Kollegin konzentriert. Es scheint aber, dass im Gespräch doch eine Lösung oder eine verbesserte Aufmerksamkeit für zerebrovaskuläre ­Notfälle gefunden wurde. Allerdings sieht auch die Berichtende erst zu spät, dass der ‚Usus‘ in der Praxis in diesem Fall eben nicht tragfähig war. Das Vorgehen bei der Telefontriage (s. Der Hausarzt 14) muss regelmäßig gemeinsam besprochen werden, um Kollegen mit wenig Erfahrung auf diesem Gebiet mitzunehmen.

Übrigens sind Berichte mit Schuldzuweisungen in unserer Berichtsdatenbank www.jeder-fehler-zaehlt.de viel seltener als in der britischen Studie – das spricht für das hohe Niveau unserer Teilnehmer.

Quelle: 1. Cooper et al. Nature of Blame in Patient Safety Incident Reports. Ann Fam Med 2017; 15: 455-461; Link: https://doi.org/10.1370/afm.2123 – frei zugänglich

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