Fallbericht #779
Ein Bericht aus einer Hausarztpraxis:
Was ist passiert?
Der Patient wurde freitags mit einem neuen Carotis-Interna-Stent bei asymptomatischer hochgradiger Stenose aus der Klinik entlassen. Er meldete sich am Montagmorgen bei Wohlbefinden persönlich in der Praxis und wurde von der Arzthelferin gefragt, ob er nach Entlassung alle Medikamente habe, was er bejahte (eigentlich unlogisch).
Drei Tage später hatte der Patient zufällig auch einen Routine-Sprechstundentermin, wo sich im Gespräch herausstellte, dass die Medikamente nun wieder exakt wie vor der Krankenhausaufnahme eingenommen wurden. Clopidogrel hatte der Patient versehentlich fünf bis sechs Tage lang nicht weitergeführt.
Was war das Ergebnis?
Nach sofortiger telefonischer Rücksprache mit dem Klinikarzt fand eine umgehende Duplexsonografie in der Klinikambulanz statt. Der Stent zeigte sich regelrecht ohne Hinweise auf Verschluss.
Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?
Patient war mit der Entlassungsprozedur diesmal vermutlich überfordert, obwohl er schon oft in Kliniken behandelt wurde.
Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?
Hinweis an das Praxispersonal, unlogische Vorkommnisse sofort an den Arzt zu signalisieren. Klinikentlassungen müssen stets in die Sprechstunde gebeten werden.
Lesen Sie auch weitere Fallberichte zu Schnittstellenereignissen wie Fehlerbericht #783 und #780
Die Entlassung nach einem stationären Aufenthalt bedeutet oft vielfältige Umstellungen: in der häuslichen und pflegerischen Versorgung, in der Arzneimitteltherapie und der medizinischen Versorgung. Dies gilt besonders für Patienten mit einem hohen Betreuungsbedarf aufgrund von Pflegebedürftigkeit, Multimedikation, Gebrechlichkeit. Dabei gibt es zahlreiche Fehlerquellen. Der Erstbesuch in einer gut vorbereiteten Hausarztpraxis kann aber auch wesentlich dazu beitragen, Probleme bei der Patientensicherheit rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden – ‚Ehre’ für die hausärztliche Versorgung einlegen.
Bei unserer derzeitigen systematischen Analyse der Fehlerberichte aus www.jeder-fehler-zaehlt.de zu kritischen Ereignissen an Schnittstellen fällt uns auf, dass der Erstbesuch nach einem Krankenhausaufenthalt in der Hausarztpraxis ein Knotenpunkt zu sein scheint, an dem sich Fehler manifestieren – fast die überwiegende Zahl der Fehlerereignisse nach Entlassung wird dort wahrgenommen und berichtet. Über die konkrete Problematik hinaus möchten wir an diesem Beispiel zeigen, wie das Praxisteam durch eine Situationsanalyse auch pro-aktiv daraus lernen kann.
Im konkreten Fall (s. Kasten #779), fand der eigentliche Erstkontakt nicht statt; kurze Zeit später stellte sich bei einem Routinetermin heraus, dass die Übergabe der Arzneimitteltherapie in hausärztliche Verantwortung nicht funktioniert hatte und das indizierte Clopidogrel nicht eingenommen worden war. Das ist eigentlich ein relativ banaler Vorfall mit nur einem begrenzten Risiko, der aber nach der Vergegenwärtigung der Situation zum Nachdenken Anlass gibt.
Situationsanalyse
In einem nicht-sektorierten, nicht-fragmentierten, sondern vernünftigen, integrierten Gesundheitssystem hätte es diese Situation kaum gegeben: Da würden keine ‚Briefe geschrieben’ oder ‚Patienten geschickt’, sondern es hätte eine Art Übergabe (gerne auch mit Informationstechnik) gegeben, in die idealerweise auch der Patient einbezogen gewesen wäre. Dann wäre für alle Beteiligten klar gewesen, dass nach der Stent-Implantation eine neue Medikation notwendig ist.
Im realen Gesundheitssystem wechseln die Patienten an der Schnittstelle tatsächlich zwischen medizinischen Lebenswelten (und Organisationswelten) und müssen, so gut sie können, ihre Versorgung und Bedürfnisbefriedigung selbst organisieren. Hoffentlich suchen sie dann möglichst bald ihren Hausarzt auf, der sie dabei unterstützt. Nach den letzten Gesetzesänderungen ist hier der Zeitdruck etwas genommen, weil die Klinik ihnen Medikamente und sonst Notwendiges für Übergangstage rezeptieren kann und muss.
In der Hausarztpraxis erscheint der Patient dann oft ohne Termin und mit unvollständigen Unterlagen. Das bereitet die Grundlage für mannigfache Fehler. Diese Situation ist allerdings regelhaft nicht so selten, das Team sollte sich – generell – darauf vorbereiten.
Beim Erstbesuch manifestieren sich unterschiedliche Probleme (alle Seiten machen Fehler – lesen Sie auch etwa die Fehlerberichte #783 und #780!) – viele davon kann das Praxisteam aber abfangen, vor allem auch Fehler bei der Entlassung.
Wie kann man daraus lernen?
- Ein möglichst zeitnaher Praxisbesuch ist für die meisten entlassenen Patienten von hoher Bedeutung (selbstverständlich abhängig von den Kompetenzen des Patienten und der Situation). Bei Patienten, bei denen zu erwarten ist, dass sie die Hilfe benötigen, sollte das Praxisteam auf den Besuch drängen, damit niemand durchs Netz fällt.
- Auch unter knappen Zeitbedingungen muss eine Abklärung der Probleme möglich gemacht werden – mit persönlichem Gespräch bei Hausärztin/Hausarzt. Oft sind komplexe Empfehlungen, Verordnungen, Patienteneinsichten zu beachten, so dass eine alleinige Beratung durch die MFA nicht reicht.
- Man kann – wie auch die DEGAM-Handlungsempfehlung zur Entlassungsmedikation vorschlägt – in dieser Konsultation priorisieren: Wichtiges sofort, Einstellung von Dauermedikation bei einem späteren Termin.
- Den Patienten nicht vergessen: Oft sind stationäre Behandlungen mit Veränderungen (der Medikation, des Leistungsvermögens, der Lebensführung) verbunden, bei denen man sich vergewissern muss, dass der Patient (oder seine Angehörigen) sie richtig verstanden haben. Auf die Aufklärung/Patienteninformation in der Klinik sollte man sich nicht verlassen.
- Aus dem Fallbericht nehmen wir auch den Terminus: „eigentlich unlogisch“ mit. Unlogik kann allen – Arzt wie MFA – auffallen und sollte ein Warnzeichen sein.
Um die weitere Betreuung zu planen, ist es wichtig, dass alle Basisinformationen vorliegen:
*(vorläufiger) Arztbrief: Was ist passiert und was wurde festgestellt (ggf. mit Befund)?
- Wie lautet die Empfehlung für die weitere medikamentöse Behandlung? (Medikationsplan / ggf. was wurde dem Patienten noch aus der Klinik verordnet?)
- Wie soll die weitere (ambulante) Betreuung gestaltet werden?
Sind diese Informationen lückenhaft oder fehlerhaft, muss der Hausarzt sofort nachhaken.
Im Erstgespräch sollte man dann alle prioritären Probleme besprechen, mit einem Akzent darauf, dass der Patient sie verstanden hat. Medikationspläne aus der Klinik bedürfen oft der hausärztlichen Überarbeitung – bei Zeitdruck kann das aber auch schrittweise erfolgen. Eine der wichtigsten Fehlerquellen sind dabei wichtige Dauermedikationen, wie etwa die orale Antikoagulation, die während des stationären Aufenthaltes unterbrochen, modifiziert oder umgestellt wird. Hier muss unbedingt beim Erstbesuch bereits festgestellt werden, wie weiter verfahren werden soll. Tückisch sind auch in der Klinik neu angesetzte Medikationen, die oft noch in der Startdosis gegeben werden, aber in der Folge auf die Erhaltungsdosis reduziert werden sollen.
Bei der Zusammenstellung der Basisinformationen (insbesondere Medikationsabgleich) kann die MFA wichtige und Konsultationszeit sparende Vorarbeit leisten. Für das Praxisteam – vorausschauend in der Form einer Teambesprechung – können diese Punkte ein Leitfaden sein, um zu klären, wie die Verantwortlichkeiten verteilt sind und wie Lücken geschlossen werden können.
Fazit
Das Erstgespräch in der Hausarztpraxis ist ein wichtiger Punkt bei der Sicherheit von Patienten nach ihrer Entlassung. Hausärztinnen und Hausärzte sollten es sicher gestalten (insbesondere bei der Medikationsplanung), selbst wenn ihnen dies bisher nicht vergütet wird – sie behaupten damit ihre Koordinationsfunktion.
Gibt es aus Ihrer Erfahrung ein Beispiel diagnostischer Unsicherheit, das Sie nicht loslässt und Sie berichten können – und welche Folgerungen Sie gezogen haben? Teilen Sie es mit Ihren Kollegen unter: https://jeder-fehler-zaehlt.de