Kommt Ihnen der nebenstehende Fall #800 bekannt vor? Vor gut einem Jahr haben wir ihn bereits in “Der Hausarzt” vorgestellt. Da uns aktuell ein neuer Kommentar (siehe unten) auf www.jeder-fehler-zaehlt.de dazu erreichte, möchten wir uns dem Bericht heute unter dem Thema “Hierarchie in der Hausarztpraxis” nähern.
Für die Famulantin stellte das vorhandene Hierarchiegefüge das entscheidende Hindernis dar, um sofort auf den beobachteten Fehler hinzuweisen. Die beiden Kommentare zum Bericht lassen vermuten, dass es auch in anderen Praxen diesbezüglich noch Diskussions- und Verbesserungsbedarf gibt. Um bei der Fehlermeldung die Hemmschwelle Hierarchie zu überwinden, duzt sich bei der Lufthansa mittlerweile das gesamte Crewpersonal inklusive der Piloten. Von der Luftfahrt hat sich die Patientensicherheitsbewegung bereits vieles abgeschaut (beispielsweise Fehlermeldesysteme). Warum nicht auch in Bezug auf Hierarchien einen Blick über den Tellerrand wagen? In 10.000 Metern Höhe ist es lebenswichtig, dass eine Fehlerquelle umgehend gemeldet wird, aber auch in der Hausarztpraxis kann Duzen (oder zumindest eine flache Hierarchie) Leben retten.
Gerade neuem Personal fallen häufig Dinge auf, die der Alteingesessene nicht mehr wahrnimmt.
Wie ermutigt man aber Mitarbeiter dazu, ihre Bedenken bestimmten Abläufen gegenüber auch zu äußern? Eine Möglichkeit besteht darin, Kritik gezielt Raum zu geben. Fordern Sie Ihre nächste Azubi dazu auf, innerhalb ihrer ersten 100 Tage zehn Dinge zu notieren, die sie für verbesserungswürdig hält. Oder lassen Sie Ihre MFA, die an einen neuen Arbeitsplatz rotiert, gezielt auf Fehlerquellen achten, bis sie mindestens zehn Aspekte zusammengestellt hat.
Wenn Sie einen so konkreten Auftrag vergeben, erreichen Sie mehr als mit einer allgemeinen Aufforderung, auf Fallstricke in Prozessabläufen zu achten. Damit diese Rückmeldung konfliktfrei funktioniert, müssen beide Seiten die Regeln guten Feedbacks einhalten:
- Nutzen Sie einen ruhigen Augenblick, etwa nach Ende der Sprechstunde.
- Formulieren Sie Ihre subjektive Sicht-weise (“Ich finde” statt “Es ist”)
- Beschreiben Sie Abläufe/Verhaltensweisen, statt sie zu bewerten.
- Geben Sie konkrete Verbesserungsvorschläge. So vermeiden Sie auch, Dinge zu kritisieren, die sich nicht ändern lassen.
Wie reagiere ich gut auf Kritik?
- Betrachten Sie die Rückmeldung als Geschenk. Bedanken Sie sich.
- Rechtfertigen Sie sich nicht (inhaltliche Fragen sind natürlich erlaubt).
- Denken Sie in Ruhe darüber nach. “Ziehen Sie sich nur den Schuh an, der Ihnen passt.” Sie müssen nicht jeden Kritikpunkt annehmen.
Konstruktive Kritik wird das ganze Team voran bringen und motivieren. Bald treten dann die Hierarchien in den Hintergrund, wenn es darum geht, auf kritische Ereignisse hinzuweisen und die Patientensicherheit in der Praxis zu verbessern.
Fehlerbericht #800: “Nicht getraut, etwas zu sagen”
Dieses Ereignis wurde uns von einer Famulantin aus einer Hausarztpraxis berichtet.
Was ist passiert?
Der jugendliche Patient hat berichtet, dass er in den letzten Tagen “schlechter Luft bekommen hat”. Da die Lunge beim Abhören frei war, wurde eine Lungen- funktionsuntersuchung vom Arzt angeordnet. Diese wurde wie folgt im Nachbarraum von einer MFA durchgeführt:
Der Patient saß auf einer Liege, wurde sachgemäß an das Gerät angeschlossen und sollte den Anweisungen auf dem Bildschirm folgen, welches er auch (äußerst demotiviert) tat. Das Ergebnis lag etwas unterhalb des Normwerts. Ich selbst hätte die Ergebnisse nicht freigegeben (ich bin MTA der Funktionsdiagnostik und habe mit der Untersuchung langjährige Erfahrung), wollte jedoch nicht an meinem ersten Famulaturtag bei einem der ersten Patienten direkt die Untersuchungstechniken des Praxisteams bemängeln.
Was war das Ergebnis?
Der Arzt hat sich die Kurve digi- tal angesehen und dem Jugendlichen ein Beta-2-Sympathomi- mekikum zum Erweitern der Lunge mitgegeben, welches er für ein paar Tage einnehmen sollte.
Mögliche Gründe, die zu dem Ereignis geführt haben können?
Für mich war die Fehleranalyse sehr einfach: Die MFA hat die Untersuchung in der Ausbildung nicht gelernt und sich somit selbst aneignen müssen. Daher fehlte hier eine qualitative Kontrolle!
- Der Patient muss aufrecht sitzen, damit ein vollständiges freies Atmen möglich wird.
- Wichtig sind eine tiefe Inspiration und zügige Exspiration, damit die richtigen Volumina und eine sinnvolle FEV1 gemessen werden können (Volumen, das in der ersten Sekunde ausgeatmet wird!)
Damit hätte der Jugendliche bei der Messung die Normwerte erreicht.
Welche Maßnahmen wurden aufgrund dieses Ereignisses getroffen oder planen Sie zu ergreifen?
Im Verlauf meiner Famulatur habe ich mir die jeweiligen MFA zum persönlichen Feedback- gespräch zur Seite genommen und ihnen die Relevanz der Untersuchungstechniken sowie die Tricks zum Animieren der Patienten erklärt. Das Ärzteteam wurde von mir ebenfalls informiert; eine gemeinsame Fortbildung haben wir bisher nicht hinbekommen. Der Arzt wollte das Thema jedoch noch im Teammeeting ansprechen.
Ausgewählte Kommentare aus dem Diskussionsforum zum Bericht #800:
Mai 2016: “In der Weiterbildung war bei uns gerade auf den chirurgischen Stationen und im OP klar, dass die Obrigkeit keine Kritik akzeptiert hat. Jetzt bin ich selbst Chef in der Praxis und finde es schwierig, mir von den MFA erklären zu lassen, wie der Laden laufen soll. Da gibt’s von mir auch oft erstmal einen abweisenden Kommentar.”
November 2015: “Ich kann keinen Fehler darin erkennen, dass eine Famulantin eine nicht korrekt durchgeführte Lungenfunktion bemängelt, das steht ihr einfach gar nicht zu.”
Ihre Meinung bitte!
Wie gehen Sie mit Hierarchien im Praxis-team um? Waren Sie selbst vielleicht schon einmal in der Situation, dass Sie aufgrund von (falschem) Respekt dem Vorgesetzten gegenüber mit berechtigter Kritik zurückgehalten haben, oder gar eine Warnung nicht ausgesprochen haben?
Berichten Sie gerne davon auf www.jeder-fehler-zaehlt.de